#23: Wie bewegen sich Eisschollen am Norpol?

Wenn man an Mathematik denkt, haben die meisten Menschen wohl Gleichungen vor Augen, staubige Tafeln und vielleicht noch einen Taschenrechner. Wahrscheinlich ein sehr einseitiges Bild von Mathematik, dass man sehr schnell revidieren muss, wenn man die Mathematikerin Dr. Carolin Mehlmann kennengelernt. Sie war im August 2023, gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Thomas Richter, für ihre Forschung zu Meereis auf einer Expedition ins Polarmeer. In der neuen Folge „Wissen, wann du willst“, sprechen die beiden über die Expedition, ihr Meereismodell und all ihre Erfahrungen und neuen Erkenntnisse.

Heute zu Gast:

Dr. Carolin Mehlmann und Prof. Thomas Richter forschen und lehren an der Fakultät für Mathematik. Gemeinsam haben sie an einer zweimonatigen Expedition ins Nordpolarmeer mit dem Forschungsschiff „Polarstern“ vom Alfred-Wegener-Institut teilgenommen. Innerhalb dieser Zeit haben sie das numerisches Modell überprüft, das die präzise Bewegung und Größe von Meereis am Nordpol verlässlicher simulieren und vorhersagen soll. Mit dem neuen Meereismodell von Dr. Mehlmann soll es künftig möglich sein, die Größe und Dicke einzelner Eisschollen und deren Bewegungsrichtung detaillierter zu analysieren und damit eine präzisere Vorhersage über deren Verhalten zu treffen. Im Anschluss an die Expedition organisieren die beiden Forschenden, beginnend im November 2023, für Schülerinnen und Schüler sowie Interessierte ein Themenjahr zur Mathematik und dem Klimawandel, um die Forschung erlebbar zu machen.

 

 

Der Podcast zum Nachlesen

Intro-Stimme: Wissen wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.

Lisa Baaske: Wenn ich an Mathematik denke, dann läuft mir zuerst ein kalter Schauer über den Rücken. Und dann sehe ich Gleichungen vor mir, staubige Tafeln und vielleicht noch einen Taschenrechner. Ich gebe zu: Ein sehr einseitiges Bild von Mathematik, dass ich sehr schnell revidieren musste, als ich die Mathematikerin Dr. Carolin Mehlmann kennengelernt hab. Als ich vor ungefähr einem Jahr in ihrem Büro saß und sie mir erzählte, dass sie im August 2023 an einer Expedition ins Nordpolarmeer teilnimmt, war ich sofort Feuer und Flamme für ihre Geschichte und auch ihre Forschung. Mein Name ist Lisa Baaske, ich arbeite bei der Pressestelle der Uni. Und genau darum soll es heute gehen: Um das Meereismodell, das Dr. Mehlmann und ihr Kollege Prof. Thomas Richter entwickeln, um die Expedition ins Polarmeer, an der die beiden teilgenommen haben und um all ihre Erfahrungen und neuen Erkenntnisse. Herzlich willkommen!

Ich hatte es schon erwähnt, es ist natürlich erstmal ungewöhnlich für eine Mathematikerin und einen Mathematiker, an einer Expedition teilzunehmen. Woran forschen Sie denn genau?

Dr. Carolin Mehlmann: Genau. In meiner Forschung geht es darum, Modelle zu entwickeln. Modelle zur Vorhersage, wie sich das Meereis in der Zukunft verändern wird. Diese Modelle sind mathematische Gleichungen, da kommt dann die Mathematik ins Spiel. Und um Vorhersagen treffen zu können, benötigen wir diese Gleichungen, die die Physik, die wir beobachten, beschreiben.

Prof. Thomas Richter: Und ich bin Professor für numerische Mathematik, ich komme aus dem Bereich der Strömungsmechanik. Das heißt, ich forsche an allen möglichen Themen und dabei arbeite ich mit Ingenieuren zusammen, aber auch mit Medizinern, jetzt auch mit Psychologen. Bei einem meiner Projekte geht es um ein großes Klimamodell, was eigentlich in Frankreich neu entwickelt wird. Und so komme ich auch in den Bereich der Eis-Dynamik, das heißt einer meiner Forschungsbereiche untersucht, wie in großen Klimamodellen die Eisfläche auf dem Ozean dargestellt werden kann.

Lisa Baaske: Also das klingt ja erst mal so, als hätten Sie da einen guten Schnittpunkt miteinander. Wie sieht denn die Arbeit hier in Magdeburg aus?

Dr. Carolin Mehlmann: Genau. Also ich beschäftige mich mit einem besonderen Bereich des Meereises, und zwar ist das die sogenannte marginale Eiszone. Das ist der Übergang zwischen dem festen Eis und dem offenen Wasser. Und die marginale Eiszone stellt sich dadurch dar, dass es sehr viele kleine Eisschollen sind und alles sehr dynamisch ist. Und ich stelle mir in einem Projekt von mir die Frage: wie kann ich das mathematisch beschreiben? Also wie kann ich eine Gleichung entwickeln, die beschreibt, wie diese Eisschollen interagieren? Und wie kann ich diese Zone, die momentan noch nicht in Klimamodellen vorhanden ist, die aber aufgrund des Klimawandels immer größer wird, dann in Klimamodellen darstellen? Und an diesem Projekt arbeite ich gemeinsam mit einer Doktorandin von mir, wir entwickeln dieses Modell.

Lisa Baaske: Was ist das Besondere an dem Modell? Also warum können das jetzige Klimamodelle noch nicht abbilden?

Dr. Carolin Mehlmann: Jetzige Klimamodelle beschäftigen sich damit, wie sich das Eis im Mittel bewegt. Also wenn man ein bestimmtes Gebiet hat, dann würde man schauen: okay, wie ist das Eis in diesem Gebiet und man mittelt über die Bewegung der ganzen Schollen und beschreibt statistisch im Mittel, wie sich das bewegt. Aber wenn man an die marginale Eiszone kommt, hat man das Problem, dass es in diesem Gebiet vielleicht gar nicht mehr genügend Schollen geben könnte. Man hat viel offenes Wasser und nur noch kleine einzelne Schollen. Und dann macht dieser Ansatz, dass ich jetzt im Mittel irgendetwas beschreiben möchte, gar keinen Sinn mehr.

Lisa Baaske: Wie sieht denn Ihr Tag in Magdeburg aus?

Prof. Thomas Richter: Na, gerade ging ja das Semester los. Das heißt, im Moment verbringe ich meine Zeit sehr viel einerseits mit Vorlesungen und Seminaren, aber dann habe ich auch einen ganzen Haufen Doktorandinnen und Doktoranden, die an den ganzen verschiedenen Projekten arbeiten. Und dazwischen treffe ich mich sehr viel mit denen. Das heißt, man kann schon sagen, dass innerhalb des Semesters sehr wenig Zeit für die eigene Forschung bleibt. Es kommen dann noch Reisen zu Workshops oder Konferenzen dazu, die ich manchmal reinquetsche. Das ist zwar alles vielseitig und macht ganz viel Spaß, aber wenn es gut läuft, habe ich dann alle ein, zwei Wochen mal einen halben Tag, wo ich mich wirklich richtig darauf konzentrieren kann, selbst zu versuchen Sachen herauszufinden und in der Mathematik weiterzukommen. Die andere Arbeit ist natürlich auch mathematische Arbeit, aber die mache ich halt nicht alleine, sondern ich leite an und arbeite mit in den Teams.

Lisa Baaske: Verstehe. Ich glaube, das ist jetzt wahrscheinlich eher eine Frage für Dr. Mehlmann, weil sie sich ja vor allem damit beschäftigt. Aber warum denn ausgerechnet die Forschung an Meereis?

Dr. Carolin Mehlmann: An das Meereis bin ich so ein bisschen zufällig geraten. Ich wusste schon immer, ich wollte was Angewandtes machen. Und ich wollte Mathematik betreiben, von der Menschen einen Nutzen haben und mit der man im Alltag etwas anfangen kann. Da ist Meereis natürlich erstmal abstrakt. Wenn man jetzt in Magdeburg eine Umfrage machen würde, um zu fragen: „Wie wichtig ist Ihnen Meereis?“, würden die meisten wahrscheinlich sagen „erstmal nicht so wichtig“. Ich bin ein bisschen zufällig in dieses Forschungsgebiet der Meereisdynamik geraten, auch durch meine Promotion. Dann habe ich auch in Hamburg am Max-Planck-Institut gearbeitet, die eben auch Klimamodelle entwickeln, und da war ich für das Meereis zuständig. Aber es hätten auch zum Beispiel Tsunami-Frühwarnsysteme sein können. Eben dieser naturwissenschaftliche Faktor, der hat mich immer schon interessiert. Am Ende wurde es das Meereis und das ist natürlich ein faszinierendes Forschungsgebiet. Man kann hier auch tolle Expeditionen mitmachen. Das ist natürlich auch etwas, was einen selbst noch mal motiviert, wenn man das mal sieht, woran man da forscht.

Lisa Baaske: Ja, und Meereis ist auch für Leute in Sachsen-Anhalt eigentlich gar nicht so uninteressant.

Dr. Carolin Mehlmann: Es ist wichtig, aber halt doch sehr abstrakt. Weil wenn wir jetzt aus dem Fenster schauen, ist das erstmal nicht das, was man sieht.

Lisa Baaske: Ja, absolut verständlich. Und wie kam es denn dann schließlich dazu, dass Sie beide an einer Expedition zum Nordpol teilgenommen haben? Was war das denn für eine Expedition?

Prof. Thomas Richter: Wir waren mit dem Schiff „Polarstern“ unterwegs, das ist der deutsche Eisbrecher, der eigentlich die ganze Zeit über für Forschungsaufgaben genutzt wird. Immer abwechselnd fährt er in unseren Sommermonaten in den Norden, in den Wintermonaten in den Süden, damit immer das Licht dabei ist. Und es ist so, dass auf dem Schiff sehr viele Leute mitfahren. Das heißt, man kann nicht einfach sagen, ich steige da jetzt ein und buche meine Reise, sondern das wird sehr lange vorher beantragt von einer sogenannten Fahrtleitung. Bei uns war die Fahrtleiterin die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, die diese Reise beantragt hat, und der grobe Fahrplan steht dann schon sehr lange fest. Ich glaube, so zwei, drei Jahre vorher, ganz grob vielleicht. Und wir haben da einen Antrag geschrieben, um noch mit auf die Reise gehen zu können.

Dr. Carolin Mehlmann: Ein Hintergrund ist auch, dass wir uns inhaltlich sehr gut ergänzen. Ich hatte eben dieses Projekt, in dem es darum geht, diese besondere Zone zu beschreiben. Und Thomas ergänzt das von der mathematischen Methode her ganz gut, auch für einen optimalen Versuchsaufbau, den wir dann auch auf dem Schiff gemacht haben. Es hat sich also ein bisschen so entwickelt, dass wir da gemeinsam teilgenommen haben.

Lisa Baaske: Sie haben sich ja quasi an die Expedition „drangehangen“, wenn ich das richtig verstanden habe. Was war denn das Hauptziel der Expedition? Warum ist das Schiff überhaupt losgefahren?

Dr. Carolin Mehlmann: Die Expedition nannte sich „ArcWatch“ und es geht darum zu beobachten, wie sich die Arktis im Zuge des Klimawandels verändert. 2012 wurden schon einmal Daten erhoben, und die Idee war, die gleichen Punkte mit dem Schiff wieder zu besuchen, Daten zu erheben und zu schauen, wie sich der Lebensraum dort verändert hat. Es war auch ein sehr emotionaler Moment, als wir den Nordpol erreicht haben und der Kapitän eine kleine Ansprache gemacht hat. Das war zwar sehr kurz, etwa drei, vier Minuten, aber er hat gesagt, dass Anfang der 90er die „Polarstern“, um den Nordpol zu erreichen, noch den zweiten Eisbrecher brauchte. Das heißt, das Schiff konnte gar nicht einfach so dahin fahren, um dort Messungen zu machen. Und jetzt haben wir mit nur 30 % der Maschinenauslastung des Schiffs den Nordpol erreicht. Das hatte er kurz einfach nur geschildert, und das fand ich schon sehr bedrückend. Wenn man weiß, dass das Schiff jetzt einfach mal dahin schippern kann, ohne großen Kraftaufwand und ohne große Schwierigkeiten. Das war schon sehr eindrücklich.

Lisa Baaske: Ja, das klingt tatsächlich ziemlich beängstigend. Man hört immer davon, aber am Ende kriegt man selbst wenig davon mit. Und dann haben Sie es ja sehr am eigenen Leib miterlebt, dass das doch sehr, sehr schwierig ist. Sie hatten es schon erwähnt, Sie sind dann im August auf das Schiff gestiegen. Wie sah denn die Vorbereitung davor aus? Also nicht nur auf Ihre Forschung, sondern auch generell auf alles drum herum, zum Beispiel die Kälte.

Dr. Carolin Mehlmann: Ja, es gab verschiedene Stufen. Also einmal waren wir gemeinsam im Bekleidungslager in Bremerhaven, da konnten wir uns am Alfred-Wegener-Institut Spezialausrüstung ausleihen. Da haben wir Schuhe anprobiert, Schneehosen, Schneejacken und hatten auch einen Eisbärenkurs.

Prof. Thomas Richter: Der Grund ist, wir haben das Schiff ja auch verlassen. Das heißt, während der Fahrt haben wir auf dem Eis selbst gearbeitet und da oben wohnen ja auch Eisbären. Die sehen aus der Entfernung zwar ganz süß aus, aber man will denen in der Nähe nicht begegnen. Die sind sehr neugierig. Und die Neugierde zeigt sich dann im Zuschlagen und Zubeißen. Die meinen das vielleicht nicht böse, aber wollen einmal probieren. Und deswegen ist es wichtig, wenn man draußen ist, dass man ein wenig auf sich aufpasst. Das heißt, dass immer, wenn eine Gruppe draußen ist, pro fünf Leute etwa, muss man einen sogenannten Eisbärenwächter oder Eisbärenwächterin haben. Und das heißt, eine Person macht nichts anderes als herumzustehen und nach Eisbären Ausschau zu halten. Die Person hat auch ein Gewehr dabei und eine Signal Pistole. Aber erst einmal muss man sagen, da passiert im Allgemeinen nichts. Ich habe mehrmals nachgefragt und mir wurde gesagt, auf Schiffsexpedition musste noch nie ein einzelner Eisbär im Umfeld des Alfred-Wegener-Instituts erschossen werden. Zum Glück. Aber trotzdem muss man für den Fall gewappnet sein und man kann natürlich nicht einfach so mit der Waffe herumlaufen. Also eigentlich kann man schon. Da oben ist internationales Gebiet, es ist nicht so ganz klar, welche Gesetze da gelten. Aber man will natürlich verantwortungsvoll damit umgehen und nicht jemandem einfach so ein Gewehr in die Hand geben. Deswegen gab es vorher einen Vorbereitungskurs, wo man vor allem theoretisch gelernt hat: Wie geht man mit Eisbären um? Wie hält man überhaupt ein Gewehr, ohne sich selbst in den Fuß zu schießen und wie benutzt man es im Notfall?

Lisa Baaske: Würde man auch nicht denken, dass man, wenn man auf Nordpol Expedition geht, erst mal lernen muss, wie das mit einer Waffe funktioniert. Aber das macht natürlich total Sinn, wenn man es jetzt so hört. Gab es sonst noch etwas neben Eisbären und Kleidung?

Prof. Thomas Richter: Man ist natürlich lange unterwegs. Man war ja zwei Monate weg. Das heißt, auch wenn man nicht an die Forschung denkt, war es bei mir zum Beispiel so, dass ich mir ausreichend verschiedene Bücher auf mein Kindle geladen habe. Ich bin nicht so der Filmgucker, aber ich habe mir vorher ein paar Hörbücher und Podcasts heruntergeladen, damit ich die dabeihaben kann. Es war dann am Ende nicht langweilig, aber man weiß ja vorher nicht, wie das so läuft. Und ich habe schon dafür gesorgt, dass ich mir sicher sein kann, dass mir da nicht langweilig wird.

Lisa Baaske: Da muss man weise Entscheidungen treffen, was man mitnimmt.

Dr. Carolin Mehlmann: Sonst ist es auch noch so ein bisschen was Organisatorisches. Wenn man zwei Monate nicht da ist, dann muss man sich auch um seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern, dass sie auch wissen, wen sie ansprechen können. Also für mich war es eher so ein riesiger Orga-Kram vorher. Man hatte gehofft, dass man wirklich nichts vergessen hatte. Es war wirklich eine Erleichterung, als man endlich auf dem Schiff war. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Jahr in Bremerhaven war, da ist ja das Alfred-Wegener-Institut. Wir sind vorher auch auf die „Polarstern“ einmal rauf, weil wir unser Kamerasystem angeschraubt und geschaut haben, ob da alles funktioniert. Dann geht man von einem Kurs zum nächsten, man hat ein Treffen mit der Teamleitung. Wir waren mit unserem Projekt mehr in der Physik in das Team eingegliedert, mit denen haben wir uns dann auch vorher mal getroffen. So ein Kennenlernen und ein bisschen besprochen, wie das klappt. Und es war für mich das Gefühl, es war richtig viel Organisation, und erst als man auf dem Schiff war, dachte man sich: „Jetzt geht es endlich los“.

Lisa Baaske: Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Wie viele Leute waren allgemein auf dem Schiff?

Dr. Carolin Mehlmann: Wir waren 50 Wissenschaftler und 50 Besatzungsmitglieder.

Lisa Baaske: Tatsächlich einige Leute, würde man gar nicht denken.

Prof. Thomas Richter: Aber das Schiff war groß, das hat sich verlaufen.

Lisa Baaske: Okay, also hatte man jetzt nicht das Gefühl, man steht da mit 100 Leuten auf engstem Raum.

Prof. Thomas Richter: Nein. Das war eine meiner Sorgen davor, dass es vielleicht immer nervig ist, weil man nie seine Ruhe hat. Aber das war gar nicht so, das Schiff ist größer als man denkt.

Dr. Carolin Mehlmann: Ja, das hat sehr viele Stockwerke, aber das Schiff war voll, auch bis auf den letzten Platz für die Wissenschaftler. Es gab ein Zimmer, das war mit vier Herren belegt. Und das ist, glaube ich, auch eine sehr intensive Zeit für die vier gewesen, zwei Monate zusammen auf einer sehr kleinen Kammer.

Lisa Baaske: Also entweder ist da eine Freundschaft fürs Leben entstanden, oder man sieht sich danach nie wieder. Worauf haben Sie sich denn vor der Reise am meisten gefreut? Und wovor hatten Sie dann vielleicht am meisten Respekt?

Dr. Carolin Mehlmann: Also ich habe mich am meisten aus Meereis gefreut und das war auch ein toller Moment, wenn man zum Eis fährt, wird der Ozean plötzlich ganz ruhig, weil die Wellen dadurch gedämpft werden. Und dann sieht man am Horizont wirklich so einen Streifen helles Blitzen sozusagen, also irgendwas, was scheint. Und das war echt ein toller Moment, ins Eis reinzufahren. Und ein bisschen Sorge, dass man vielleicht irgendwann denkt: ich möchte gehen, aber man kann nicht gehen, weil man auf dem Schiff ist und man ist zwei Monate da, ob man es dann irgendwann möchte oder nicht.

Lisa Baaske: Aber gab es diesen Punkt?

Dr. Carolin Mehlmann: Sicher, ja. Das hatte ich ein bisschen unterschätzt. Das Wetter ist sehr schlecht und es ist sehr, sehr neblig, wir hatten vielleicht fünf Sonnentage in zwei Monaten. Das ist wie so ein richtig heftiger November hier und dann ist man irgendwann so weit, dass man denkt: ich möchte einfach mal raus und einen grünen Baum sehen. Also ja, das gab es dann schon.

Lisa Baaske: Also da, wo ich mir hier im August bei 34°C gedacht habe, es könnte jetzt auch langsam kälter werden, haben Sie sich wahrscheinlich genau das Gegenteil gedacht.

Dr. Carolin Mehlmann: Genau, es könnte echt mal wieder die Sonne rauskommen.

Lisa Baaske: Kann ich mir vorstellen. Und worauf haben Sie sich am meisten gefreut und wovor hatten Sie Respekt?

Prof. Thomas Richter: Ich glaube, ich habe mich darauf gefreut, dass es wie eine Auszeit ist. Ich habe mir eigentlich sehr viel Ruhe versprochen. Ich habe auch gedacht, dass ich zwischendrin, wenn wir mit dem Schiff einfach nur fahren und wenn es nichts auf dem Eis zu arbeiten gibt, dass wir sehr viel Zeit haben, an Sachen zu arbeiten, wie eine Art Forschungs-Freisemester. Ich hatte eine kleine Liste von Aufgaben, die ich für mich selbst erledigen musste und ich dachte, da habe ich jetzt wirklich mal die Zeit und Ruhe dafür. Das hat sich nicht ganz so herausgestellt. Das war einfach viel mehr Arbeit, als ich dachte. Ich bin ein bisschen zu was gekommen, aber bei weitem nicht zu dem, was ich dachte. Aber dafür auf der anderen Seite; meine Befürchtungen haben sich alle nicht erfüllt. Die eine war, dass es nervig ist, weil das Schiff immer voll ist, aber man hatte wirklich genug Ruhe. Und dann habe ich mir gedacht, es war ja fast immer hell. Zum Ende kam man in Richtung Sonnenuntergang, aber es war immer hell und ich dachte, vielleicht kann ich da nicht schlafen, aber das war auch gar kein Problem.

Lisa Baaske: Hatten Sie denn eine Schlafmaske oder gewöhnt man sich einfach daran?

Prof. Thomas Richter: Das war gar nicht notwendig. Man hatte so Rollos zum Runterziehen, aber das war wirklich eine dicke Leinwand. Da kam nichts durch.

Lisa Baaske: Verstehe. Sehr interessant. Man spricht die Worte selten aus, ich tatsächlich In letzter Zeit ein bisschen öfter, weil ich ja ein bisschen mit ihnen zu tun hatte. Aber Sie beide sind ja gerade zurück vom Nordpol. Das Forschungsschiff „Polarstern“ ist im Oktober wieder zurückgekehrt. Wie lange genau waren Sie denn unterwegs und wo hat die Route denn überall hingeführt?

Prof. Thomas Richter: Wir waren zwei Monate unterwegs. Wir sind in Norwegen, in Tromsø, losgefahren. Anfang August, am ersten, zweiten vielleicht, sind wir los. Und dann ging es einfach nach Norden. Das heißt, wir sind an Spitzbergen vorbei, da gab es einen kurzen Stopp aus Steuergründen und fürs Tanken. Habe ich nicht so ganz verstanden. Dann brauchten wir da einen Stempel und wir mussten noch ein bisschen Mehl kaufen für die Fahrt. Und dann ging's aber hoch und das war gar nicht lange, das waren insgesamt keine fünf Tage. Und dann haben wir das Eis erreicht und ab dem Zeitpunkt war man dann im Eis. Und das kann man sich so vorstellen: auf der Fahrt hatten wir neun Eis-Stationen, so nennt man das, wenn das Schiff sich eine große Eisscholle aussucht. Und an der wird dann festgemacht. Also man verankert sich wirklich an dem Eis für ein, zwei Tage, um dann da stationär arbeiten zu können. Ja, so haben wir einen sehr weiten Weg gemacht. Die Route mit dem Schiff hatte ja ein ganz festes Ziel, wir wollten ja die Expeditionen von vor zwölf Jahren nachlaufen. Das heißt, wir sind hochgefahren und ich glaube, es war so etwa der 85. Breitengrad, auf dem wir dann recht lange geblieben sind, und sind dann sehr weit nach Osten gefahren. Also wenn man auf der Landkarte schaut, haben wir ca. eine 1/4 Umdrehung um die Erde gemacht. Da sind wir dann gerade hoch zum Nordpol und am Nordpol fällt ja alles zusammen, dann sind wir über den 60. Längengrad wieder zurück nach Süden gefahren. So haben wir eine ganz schön lange Tour gemacht und alle paar Tage wieder gab es dann diesen zwei, drei-Tages-Stopp.

Dr. Carolin Mehlmann: Man könnte schätzen, dass wir am Ende etwa sechs Wochen wirklich permanent im Eis waren. Und die Arbeit bei uns kann man sich so vorstellen: man ankerte, das waren dann etwa drei Tage Eisstation, dann ist man wieder zwei Tage Transit zu der nächsten Scholle gefahren. Da hat man das ganze wieder wiederholt und die Daten aufgenommen. So hatten wir praktisch immer einen Wechsel zwischen „Wir fahren zur nächsten Eisscholle“, „Wir sind auf einer Eisscholle“, „Wir erheben Daten“ und dann Equipment einpacken, auspacken, putzen…

Prof. Thomas Richter: Na ja, vielleicht ist da noch wichtig, dass in unserem Team nur acht von den 50 Leuten waren. Und dann gab es noch andere, die auch auf dem Eis gearbeitet haben, Biologen und Chemiker. Aber sehr viel Forschung wurde auch direkt vom Schiff gemacht. Das heißt, sehr viel Forschung war auch Tiefseeforschung. Dann wird entweder der Boden, also der Schlamm hochgeholt, um ihn oben auf dem Schiff untersuchen zu können, oder es wurden Fotoaufnahmen vom Meeresboden gemacht, um eine Übersicht über die Tiere und Pflanzen dort zu finden. Das heißt, es war nicht nur das Eis, auf dem Schiff lief dauerhaft Forschung, tags und nachts.

Lisa Baaske: Aber auch sehr interessant, weil es ja dann so interdisziplinär ist, dass man eben auch mal in andere Forschungsbereiche reingucken kann, um zu schauen, wie sie arbeiten, oder?

Dr. Carolin Mehlmann: Ja, es war auch mal erfrischend, dass wir etwas anderes sehen. Aber es war wirklich so; man kann sich das wie ein kleines Kraftwerk vorstellen. Rund um die Uhr wurde da geforscht und gearbeitet.

Lisa Baaske: Das klingt sehr, sehr interessant auf jeden Fall. Sie hatten schon ein paar Sachen erwähnt, wie zum Beispiel, dass es einfach nicht dunkel wird. Gab es da noch andere Sachen, an die Sie sich gewöhnen mussten? Ich kann mir vorstellen, dass so ein Leben auf einem Schiff schon seine Eigenheiten hat.

Dr. Carolin Mehlmann: Verschiedene. Zum Beispiel interessant für mich war am Anfang, dass es feste Essenszeiten gab. Das ist jetzt nicht so, dass man irgendwann in die Mensa geht mit seinen Kollegen. Es verschiebt sich jeden Tag mal so ein bisschen, je nachdem. Und da gab es wirklich ganz feste Essenszeiten, die auch für unser Verständnis teilweise sehr früh waren. Um 11:30 Uhr war auf jeden Fall immer Mittagessen und um 17:30 Uhr Abendessen, dann zwischendurch gab es eine Kuchenzeit, eine Frühstückszeit…da musste man sich erst mal in diesen Bordalltag einleben. Einmal die Woche gab es einen Shop, da konnte man sich Schokolade kaufen, und da musste man gucken, dass man es nicht vergisst. Einen anderen Tag gab es, wenn man noch mal Zahnpasta brauchte. Man musste sich auch an einen gewissen Rhythmus gewöhnen. Das Interessante ist, die Besatzung fährt weiter, die ist nicht nur mit uns gefahren. Die „Polarstern“ fährt noch, wir sind in Tromsø zugestiegen, und die sind alle schon in ihrem Rhythmus. Man kommt also als Gast auf das Schiff und muss sich erstmal in den Tagesrhythmus einleben.

Prof. Thomas Richter: Ja, dann, was natürlich komisch ist, wir sind ja fast dauerhaft durchs Eis gefahren, das heißt, man hat andauernd so ein kleines Krachen vor dem Schiff. So laut war das meistens nicht, aber es ist anders, als wenn man normalerweise mit dem Schiff fährt. Nicht so ein Schwanken, sondern es sind eher zufällige Bewegungen. Wenn das Schiff mal aufs dickere Eis fährt, dann sackt es ein bisschen zur Seite weg. Es war ein bisschen irritierend, aber nach ein paar Tagen hat man das eigentlich kaum noch wahrgenommen. Was vielleicht dann noch komisch war, ist dass das Leben auf dem Schiff sehr vertikal ist. Das war 100m lang, aber man rennt jetzt selten von vorne nach hinten. Also man läuft erstaunlich viel. Man sieht das ja heutzutage auf seinem Telefon, wenn man draufschaut. Ich glaube, ich bin trotzdem auf 8.000 Schritte am Tag gekommen. Aber ich bin täglich im Schnitt auf über 35 Stockwerke gekommen. Man war andauernd von oben nach unten unterwegs.

Lisa Baaske: Wahnsinn. Wussten Sie eigentlich vorher, dass Sie auf gar keinen Fall seekrank sind?

Dr. Carolin Mehlmann: Ich war ja schon auf Expedition, ich wusste das.

Prof. Thomas Richter: Ich bin davon ausgegangen, dass ich kein Problem habe, weil ich auch beim Lesen im Bus kein Problem habe. Ich war ein bisschen aufgeregt, weil man dann am Endeffekt doch nicht weiß, wie man darauf reagiert. Aber es ging alles gut.

Lisa Baaske: Dann ist ja gut. Ich glaube, das ist dann der schlimmste Moment, wenn man da drauf ist und denkt: Oh Gott, das wird nichts. Sie haben ja schon ein bisschen vom Alltag berichtet. Also viele, viele Treppenstufen offensichtlich. Wie sah denn sonst so der Alltag auf dem Schiff aus? Nehmen Sie uns gerne einmal durch einen Tag mit!

Prof. Thomas Richter: Ja, morgens ging es mit dem Frühstück los. Um ehrlich zu sein, wenn wir nicht aufs Eis mussten, habe ich das Frühstück ausfallen lassen. Das war mir zu früh und es gab sowieso zu viel zu essen. Man konnte eigentlich dauerhaft auch dazwischen etwas snacken, wenn man wollte. Und dann hing es halt davon ab. Sagen wir mal, es war ein Tag, wo wir keine Eisarbeit hatten. Dann war es meistens so, dass man ganz normale Büroarbeit hatte, wie auch hier an der Uni. Unser Team hatte ein kleines, schönes Büro oben auf dem Schiff und dann habe ich da einfach gearbeitet. Eigentlich hat sich das nicht sonderlich von der Uni unterschieden, ich hatte nur meine Doktorandinnen und Doktoranden nicht dabei. Und dann ging es aber los. Dann kam das Mittagessen, danach wurde die Zeit dann schon knapp. Nach dem Mittagessen war ein bisschen Zeit zu arbeiten, aber meistens ging dann die Planung los. Wenn zum Beispiel am nächsten Tag Eisarbeiten anstehen, dann musste man sich da absprechen und planen, musste Schlitten packen mit den ganzen Geräten, die wir brauchten. Dann geht's weiter, dann gab es Kuchen. Direkt nach dem Kuchenessen gab es meistens das sogenannte Science Meeting. Das heißt, das war das große Treffen von allen Leuten aus der Wissenschaft und wo einerseits auch Planung gemacht wurde über die weitere Fahrt, aber dann wurden auch schon erste Ergebnisse vorgestellt. Wir mussten unsere Sachen auswerten. Bei uns dauerte das vielleicht länger, aber auch wir konnten was präsentieren. Aber zum Beispiel die Biologen konnten direkt irgendwelche Bilder zeigen. Kaum danach war schon das Abendessen. Also da war sehr wenig Zeit. Und dann hat man entweder noch ein bisschen gearbeitet, oder es gab auch ein kleines Fitnessstudio, es gab eine Sauna und ein kleines Schwimmbecken. Das war eher ein Planschbecken, aber es hat gereicht, um ein bisschen Wasserball zu spielen. So gingen die Tage eigentlich ganz gut vorbei, aber auch mit, das war für mich eine Überraschung, sehr viel Arbeit. Es war nicht so ruhig, wie ich dachte.

Lisa Baaske: Und die Konstanten waren offensichtlich das Essen, sehr interessant!

Dr. Carolin Mehlmann: Ja, weil man immer diese Termine hat. Auf dem Schiff sind auch lauter Container und in den Containern sind die ganzen Sachen gelagert. Das sind so große Container, die man vielleicht im Hamburger Hafen sieht. Erstmal steht man vor so einem Container, und ganz ehrlich, da weiß man natürlich nicht mal, wie man den öffnet. Und dann hat man gelernt, wie öffnet man Container, wie baut man einen großen Eisbohrer? Aus welchen Teilen besteht der eigentlich? Welche Teile muss ich in meinen Schlitten einpacken? Danach muss man immer alles säubern, immer schön abspritzen und solche Geschichten. Es war also vor allem rund um die Eisstation immer sehr geschäftig.

Lisa Baaske: Und wie sah dann ein Eistag aus?

Dr. Carolin Mehlmann: Ein Eistag hat dann wahrscheinlich so gegen 8:00 Uhr oder 9:00 Uhr begonnen. Gegen 7:00 Uhr ist der Leiter von dieser Eisphysik auf die Brücke zum Kapitän gegangen und er hat dann über Satellitenbilder und das Radar auf dem Schiff eine Scholle ausgesucht, die groß genug ist, damit alle Teams arbeiten können. Das ist von der Ausdehnung her im Kilometer-Bereich, würde ich sagen. Und dann wurde geankert, das heißt da wurde dieser Eis-Anker auf die Scholle gelegt. Dann gibt es ein Explorer-Team, was auf die Eisscholle geht, und prüft, dass das Eis dick genug ist, dann werden Wege abgesteckt und ein Camp aufgebaut. Wo darf man langlaufen? Welche Messungen werden an welcher Ecke gemacht? Das zieht sich ein bisschen hin, bis alles überprüft und abgelaufen wird. Dann sind wir wahrscheinlich zwischen 10:00 Uhr und 11:00 Uhr auf die Scholle mit unseren Schlitten, die werden am Abend vorher gepackt. Dann verstreuen sich 15, vielleicht 20 Wissenschaftler auf ihren Schlitten und laufen alle auf die Scholle. Man geht dann an die verschiedenen Stationen, wir waren vor allem auch unterstützend für das Eis-Team tätig. Dort ist dann ein Riesenloch, etwa 1,50m auf 1,80m ausgehoben worden im Eis, damit ein Tauchroboter dort runtergelassen werden konnte. Das heißt am ersten Tag war man tatsächlich damit beschäftigt, dieses Loch auszuheben und ein Gitter aufzubauen. Man musste solche Fähnchen und Marker unter das Eis legen, damit der Roboter wusste, wo er lang tauchen sollte.

Lisa Baaske: Das heißt also auch viel körperliche Arbeit, oder?

Dr. Carolin Mehlmann: Ja, also im vier- oder fünf-Tages-Rhythmus musste immer dieses Eisloch gegraben und gebohrt werden, das war dann sehr körperlich anstrengend, würde ich schon sagen. Danach wurde getaucht. Das war dann der zweite Tag. Auf der Eisstation wurde vor allem dieser Roboter getaucht, wir waren mit dem Kamerasystem beschäftigt. Und am dritten Tag musste alles wieder abgebaut werden, die Schlitten zurückziehen…das war auch wieder sehr körperlich.

Prof. Thomas Richter: Also beim Loch graben ist man schon ins Schwitzen gekommen. Ich habe das immer Gartenarbeit im Winter genannt. Das Eis war so zwischen 1 und 1,5m dick und man musste sehr viel Eis bewegen und das ist auch sehr fest. Und sich da durchzubohren und durchzusägen war schon sehr anstrengend. An den anderen Tagen war es dann oft so, dass das Schiff nicht da war. Am ersten Tag war das Schiff immer da, weil es verschiedene Sicherheitsvorschriften gibt. Wenn das Schiff nicht an der Scholle ist, dürfen maximal neun Leute auf dem Eis sein, damit man in Notfällen mit dem Hubschrauber alle zurückholen kann. Am ersten Tag war aber immer sehr viel los mit sehr vielen Teams. Und da war das Schiff da und alle sind wirklich ausgeströmt. Und an den anderen Tagen war dann oft nur unser Team und noch ein zweites Team da, wo halt längere Untersuchungen gemacht wurden. Und die Tage waren dann zum Teil sehr ruhig. Einerseits war das laute Schiff weg, wir hatten zwar selbst Generatoren für den Tauchroboter auf dem Schiff, aber trotzdem war es relativ leise und es ist auch weniger passiert. Eine der Hauptaufgaben, das klingt sehr langweilig, war zum Beispiel, dass man an dem Loch von dem Tauchroboter steht und die Bärenwache macht, und vielleicht bekommt man einmal die Stunde per Funk die Nachricht, dass der Roboter zurückkommt. Dann hat man ihn kurz an den Haken genommen, aber ansonsten ist nicht viel passiert. Klingt sehr langweilig, aber das kann auch sehr schön sein, weil das eine Atmosphäre ist, wo man sonst nie hinkommt. Ja, und das läuft dann unterschiedlich. Das können ein paar Stunden sein, aber es kann auch sein, dass bei den anderen mal vielleicht etwas nicht ganz gut läuft. Wenn das Schiff zum Beispiel Probleme hat, irgendwelche Tiefseegeräte zurückzuholen, dann zögert sich das hinaus. Und ich glaube, einmal war es so, dass man statt 20:00 Uhr abends dann erst um 4:00 Uhr nachts abgeholt wurde. Aber das hat nicht so viel gemacht, es war ja trotzdem hell. Es war trotzdem sehr schön und es war einfach einmalig. Das hat man dafür mal in Kauf genommen.

Dr. Carolin Mehlmann: Es war auch immer ein sehr schöner Moment, wenn das Schiff zurückkommt. Es ist ja sehr neblig, wie hier im November, und dann sieht man aus dem Nebel die „Polarstern“ auftauchen. Man hat vorher über Funk zum Beispiel mitbekommen: okay, in einer Stunde sind wir zurück und dann kann man sich das vorstellen, wie das Warten auf einen Bus. Die Wissenschaftler hatten dann, wenn das der Tag des Abbaus war, auch schon alles zusammen und dann sitzen da neun Leute in den roten Anzügen und warten. Und dann kommt das Schiff angefahren und holt die Wissenschaftler wieder ab.

Lisa Baaske: Klingt auf jeden Fall nach sehr, sehr speziellen Momenten. Ja, das ist im Prinzip auch schon die nächste Frage. Also gab es irgendwas, das während der Expedition passiert ist, irgendein Moment, oder vielleicht auch mehrere, an die Sie noch sich noch sehr lebhaft erinnern und wo Sie sagen, das werde ich später meinen Urenkeln noch erzählen?

Dr. Carolin Mehlmann: Wir hatten tatsächlich zwei Begegnungen mit Eisbären. Einmal in einem Transitmoment zwischen zwei Eisschollen, das heißt, das Schiff war von Station X zu Y unterwegs, und einmal während einer Eisstation. Ich hatte Brückenwache, denn wenn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen draußen auf dem Eis arbeiten, muss auch immer jemand mit dem Fernglas auf der Brücke stehen und schauen, ob in der Ferne Eisbären ankommen. Ich kam morgens um 8:00 Uhr zu meinem Dienst auf der Brücke und dann hieß es schon, da hinten ist ein Eisbär in 3,5km Entfernung. Also der, der das vor mir gemacht hat, hat das sehr gut gemacht und wirklich auf große Entfernung einen Eisbären gesehen. Und das war dann schon sehr spannend und aufregend. Dann war es mein Job, mit noch einer anderen Person diesen Eisbären mit dem Fernglas zu verfolgen und Bescheid zu geben, wenn der nah genug am Schiff ist. Denn zur gleichen Zeit waren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen draußen auf dem Eis und haben ihre Arbeit gemacht. Und dann wird irgendwann ein Mechanismus ausgelöst, dass man sagt: nein, ihr müsst jetzt zurückkommen, der Eisbär ist nah genug. Und das ist natürlich auch eine große Verantwortung, weil wenn so ein Eisbär mal ein bisschen schwimmt, dann ist das nur noch ein kleiner weißer Punkt, der von einer Eisscholle zur nächsten schwimmt. Also das war schon ein sehr aufregender und eindrucksvoller Moment. Und er kam auch wirklich. Der Eisbär war von diesen 3,5km bis zu den Messstationen gekommen, denn für den ist das natürlich interessant. Das werde ich nie vergessen.

Prof. Thomas Richter: Ja, und da ist es ja auch perfekt gelaufen. Genauso sollte es sein. Man war weit davon entfernt, den anschießen zu müssen. Man hat den wirklich weit gesehen, das war sehr kontrolliert, da war aber auch gute Sicht und die Brücke ist 20 bis 25m hoch, da sieht man auch ganz gut. Noch ein weniger schönes oder eher komisches Erlebnis: recht früh sind wir an einem Kreuzfahrtschiff vorbeigefahren. Und zwar war das ein französisches Kreuzfahrtschiff und die bieten im Sommer alle zwei Wochen eine Fahrt zum Nordpol an, wo man für sehr viel Geld da hinfahren kann. Und das ist natürlich irgendwo okay, aber es fühlt sich trotzdem sehr komisch an, dass man einen Bereich hat, wo man denkt, den sollte man eigentlich in Ruhe lassen. Man selbst als Wissenschaftler fühlt sich da schon ein bisschen wie ein Eindringling. Es kommt einem dann komisch vor. Und außerdem ist es ja auch wieder ein Zeichen dafür, dass das Eis nicht mehr das ist, was es mal war. Wenn man da einfach so hinfahren kann.

Lisa Baaske: Auf jeden Fall. Wusste ich tatsächlich gar nicht. Das ist natürlich typisch Mensch, dass aus allem eine touristische Attraktion gemacht wird. Sie waren ja dort, weil Sie überprüfen wollten, ob Ihr Modell tatsächlich abbildet, wie sich die Schollen bewegen. Tut es das denn? Wie haben Sie das untersucht?

Dr. Carolin Mehlmann: Also wir haben mit einer Kamera die Bewegung getrackt und dann auch ausgewertet und beschrieben. Und wir haben festgestellt, dass es Situationen gibt, da funktioniert das. Aber es gibt auch Situationen, da funktioniert das nicht. Unsere Erde ist noch komplexer als das Modell, das ich vorgeschlagen habe. Das bedeutet jetzt für mich, dass wir das noch weiter erweitern müssen, um auch alle verschiedenen Situationen abbilden zu können. So ist das auch in der Forschung, man muss manchmal einfach weiterdenken und weiterarbeiten. Es ist aber ein Teilerfolg.

Prof. Thomas Richter: Vielleicht kann man das ja auch ein bisschen erklären. Also grob sagt man, die Eisschollen werden durch den Wind angetrieben. Die ganz grobe Regel geht auf Fridtjof Nansen von vor langer Zeit zurück. Die Eisschollen werden durch den Wind angetrieben und die haben etwa 2 bis 4% der Geschwindigkeit von der Windgeschwindigkeit. Aber das geht nicht in die gleiche Richtung, wegen der Erdrotation. Das ist eine Kraft, die immer auf alles Bewegte wirkt, die Corioliskraft. Und deswegen ist die Regel, die bewegen sich mit 2 bis 4% der Geschwindigkeit und sind vielleicht 20 bis 40 Grad abgelenkt im Uhrzeigersinn, wenn man auf der Nordhalbkugel ist. Und das liegt an der Erdrotation. Unsere Idee war eigentlich, dass wir das ein bisschen eingrenzen, dass wir verstehen, was sind diese 2 bis 4 %, woher kommen die 20 bis 40 Grad Ablenkung? Wie hängt das vielleicht von der Schollengröße ab? Aber wir haben jetzt herausgefunden, dass es auch 100 Grad Unterschied gibt. Die Geschwindigkeit hat ganz gut gepasst, aber die Ablenkung hat gar nicht gepasst. Und es ist jetzt nicht so, dass man sagen kann, das ist deswegen ein Fehlschlag. Ganz und gar nicht. Die Arbeit ist aber nicht getan, sondern geht jetzt erst richtig los. Wir haben im Endeffekt herausgefunden, was vielleicht auch nicht so verwirrend ist und so besonders ist, dass die Umgebung ganz wichtig ist. Wenn eine kleine Eisscholle von vielleicht 10m Durchmesser sich neben einer ganz großen bedeckten Fläche bewegt, dann hat diese große Fläche einen starken Einfluss darauf. Und das können wir auch erklären. Die Frage ist jetzt in die Zukunft: Wie baut man das in das Modell von Carolin ein? Denn die Erklärung, die wir haben, ist viel zu aufwendig, die könnte man nicht in ein Computermodell einbauen. Also da geht die Forschung jetzt erst richtig los. Es ist nicht ganz so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben, aber deswegen nicht langweilig.

Lisa Baaske: Im Prinzip sind Sie ja auch auf die Expedition gegangen, um zu sehen, ob das, was Sie sich hier in Magdeburg theoretisch überlegen, funktioniert. Und das ist ja im Prinzip auch ganz gut, wenn man merkt; okay, das funktioniert, aber da muss man noch mal nachjustieren.

Dr. Carolin Mehlmann: Genau, in welchen Situationen klappt das? Wenn die Eisschollen alle sehr klein, gleich groß sind und die Bedingungen alle in eine ähnliche Richtung gehen, dann klappt das. Wenn das aber nicht so homogen ist, grob und sehr viele kleine Schollen, dann beeinflussen sie sich gegenseitig doch sehr stark. Und das müssen wir jetzt ins Modell integrieren.

Lisa Baaske: Welche Daten, Eindrücke oder auch neue Ideen nehmen Sie denn jetzt dann mit aus der Expedition? Also wenn Sie morgen ins Büro gehen, was sind denn die ersten Ergebnisse, an denen Sie jetzt arbeiten?

Dr. Carolin Mehlmann: Die ersten Ergebnisse sind, dass wir verstanden haben; in manchen Situationen klappt das und wir wissen, welche das sind, in anderen nicht, wie Thomas das gerade geschildert hat. Und dann bedeutet das aber, dass wir sehr viele Daten prozessieren müssen. Einen Riesenhaufen an Daten.

Prof. Thomas Richter: Ja, das sind Einzelbilder. Und das ist wahrscheinlich etwa ein Terabyte.

Dr. Carolin Mehlmann: Ja, das muss komplett durch Algorithmen durchlaufen und dann können wir erst weiterarbeiten. Und diese ersten Ergebnisse, die wir jetzt haben, sind Daten, die wir schon während der Zeit auf dem Schiff prozessiert haben, immer wenn wir es zeitlich geschafft haben. Und dann haben wir schon als ersten Eindruck gesehen; das funktioniert, das funktioniert nicht, aber das bedeutet jetzt erstmal wirklich viele Daten verarbeiten. Und wenn man dann einen Überblick über die Daten hat, dann kann man das Modell und die Gleichung anpassen.

Lisa Baaske: Für sie war es sogar schon die zweite Expedition. Stehen denn in nächster Zeit noch mal Expeditionen an? Was ist denn so in Zukunft geplant?

Dr. Carolin Mehlmann: Jetzt habe ich erstmal wirklich viele Daten. Ich würde sagen, bevor ich die nächste Expedition mache, sollte ich auf jeden Fall erstmal diese Sachen verwerten und bearbeiten. Also erst mal ist keine nächste Expedition geplant.

Prof. Thomas Richter: Mir reicht es auch erstmal, auch wenn es wirklich sehr viel Spaß gemacht hat. Aber der Zeiteinsatz von zwei Monaten ist natürlich extrem. Das Leben geht ja weiter und das holt einen jetzt ein. Ohne Vorbereitung geht das Semester los. Ja, die Arbeit mit den ganzen anderen Projekten ist ein bisschen liegen geblieben. Und das Ganze hat ja sowieso nur durch Zufall gepasst, weil die Fahrt genau in den Semesterferien war. Ansonsten wäre das für mich sehr schwer gewesen. Und dann denke ich mir auch, Zeit ist etwas sehr Wertvolles. Das war wirklich ganz spannend, es hat mir ganz viel Spaß gemacht. Aber beim nächsten Mal, wenn ich so etwas noch mal mache, dann würde ich gerne auch was ganz anderes sehen. Die Antarktis soll sehr schön sein. Aber vielleicht gibt es ja auch interessante Forschungsbereiche, wo man mal herumkommt, wo es ein bisschen wärmer ist. Das wäre auch nicht schlecht.

Lisa Baaske: Vielleicht mal in die Wüste oder in Dschungel, wer weiß. Was ja auch in der nahen Zukunft liegt, ist eben das Themenjahr „Klimawandel und Mathematik“, dass Sie ins Leben rufen. Erzählen Sie gerne mal ein bisschen mehr davon. Für wen ist es gedacht und was erwartet denn die Leute?

Dr. Carolin Mehlmann: Wir sind jetzt in den letzten Vorbereitungszügen des Themenjahrs, dann soll das Projekt in 3 bis 4 Wochen auch starten. Und die Hauptgruppe sind Schüler und Schülerinnen, deren Eltern und Familie sozusagen. Die Idee ist, dass wir eine AG anbieten und dann können sie an die Uni kommen. Es ist ja nicht so offensichtlich, was Mathematik denn mit dem Klimawandel zu tun hat. Es ist, glaube ich, so, dass viele das gar nicht miteinander in Verbindung bringen würden. Und die Idee der AG ist, aufzuzeigen, wie wichtig denn auch mathematische Methoden sind, um so einer Situation, in der wir sind, nämlich dem Klimawandel, auch begegnen zu können und das Verständnis zu schaffen. Wir müssen auch Mathematik betreiben, um mit so einer schwierigen und komplexen Situation fertig zu werden. Und das ist ein Teil dieses Themenjahres.

Prof. Thomas Richter: Genau wir wollen auch wirklich zeigen, dass Mathematik ganz interessant und spannend sein kann und auch vielfältig. Dass Mathematik nicht nur das Bild ist, was man oft in Filmen sieht, von irgendeinem ganz introvertierten Menschen, der bleich vor dem Computer sitzt. Vielleicht ist eine kleine Lampe an, vielleicht hat er auch nur Stift und Papier, und er grübelt über Tage und Wochen. Und irgendwann freut er sich, dass er irgendwas bewiesen hat, was keiner versteht. Das gibt es wirklich, das ist ein Teil der Mathematik. Aber mit dem haben wir ehrlich gesagt gar nichts zu tun. Bei uns heißt Mathematik meistens, in dem Fall jetzt mit dem Meereis, dass es irgendwelche Probleme gibt. Und die Probleme kommen nicht aus der Mathematik, sondern die kommen zum Beispiel aus der Medizin oder in dem Fall aus den Klimawissenschaften. Und man braucht die Mathematik, um die Probleme zu verstehen und hoffentlich lösen zu können. Und das versuchen wir zu vermitteln, dass man mit der Mathematik auch praktisch arbeiten kann und dass sie einfach extrem vielseitig ist. Also wir hoffen, dass wir natürlich einerseits für das Thema Aufmerksamkeit bekommen und Leute interessieren. Wir hoffen aber auch, dass wir wirklich ein bisschen am Bild der Mathematik arbeiten können und vielleicht sogar langfristig Leute bewegen können, dass nach der Schule ein bisschen zu vertiefen.

Dr. Carolin Mehlmann: Genau. Und um diesen Punkt auch noch mal zu verstärken, haben wir neben der AG auch eine Vortragsreihe, in der wir verschiedene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen einladen, nach Magdeburg zu kommen, die auch im Klimabereich arbeiten. Sie halten dann Vorträge, aber die sind so gestaltet, dass es sich auch an eine breite Öffentlichkeit richtet. Man muss also kein Mathematiker oder Physiker sein, um sich die Vorträge anzuhören. Da freuen wir uns auch schon am 16.11. auf unseren ersten Sprecher, das ist Dirk Notz. Er ist Klimaforscher und hat auch am Sachstandsbericht des Weltklimarats mitgeschrieben. Und er freut sich auch darauf, Schüler und Schülerinnen begeistern zu können für dieses Umweltthema. Das finde ich ganz toll.

Lisa Baaske: Das klingt super interessant. Ich hoffe, der Podcast hat auch ein bisschen dazu beigetragen zu zeigen, dass Mathematikerinnen und Mathematiker total coole Sachen machen. Bei mir hat es auf jeden Fall funktioniert, dass ich mir gedacht habe; Mensch, Mathematik ist gar nicht so verkehrt. Vielen, vielen Dank, dass Sie da gewesen sind!

Dr. Carolin Mehlmann: Ja, sehr gerne!

Lisa Baaske: Ansonsten werden wir hoffentlich noch mal viel voneinander hören, wenn vielleicht die nächste Expedition in die Wüste ansteht, dann melden Sie sich gern. Ansonsten, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich hoffe, Ihnen hat's gefallen und Sie schalten auch das nächste Mal wieder ein. Bleiben Sie gesund!

Outro-Stimme: Wissen, wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.

 

Letzte Änderung: 20.11.2023 - Ansprechpartner: Webmaster