Das Gehirn nimmt die Abkürzung
Gewohnheiten entstehen, weil das Gehirn beim Handeln Abkürzungen nimmt. Das behauptet eine internationale Forschergruppe mit der Neurowissenschaftlerin Dr. Lieneke Katharina Janssen vom Institut für Psychologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg in einem aktuellen Artikel. In der Fachzeitschrift Trends in Neurosciences beschreibt sie gemeinsam mit Prof. Fred Hamker (TU Chemnitz) und Dr. Javier Baladron (Universidad de Santiago de Chile), wie verschachtelte neuronale Schleifen unser Verhalten steuern und wie daraus sowohl zielgerichtetes als auch Gewohnheitshandeln entsteht.
Das Gehirn arbeitet dabei wie ein dichtes Straßennetz: „Wenn bestimmte Pfade im Netzwerk abgekürzt werden, kann das Verhalten mehr oder weniger automatisch ablaufen. Reden alle Schleifen mit, wird das Handeln bewusster und zielgerichteter“, erläutert die Wissenschaftlerin. Im Zentrum stehen dabei die Basalganglien, der Thalamus und der Kortex, also zentrale Schaltstellen des Gehirns, die Informationen austauschen und Entscheidungen vorbereiten. Bei neuen oder komplexen Aufgaben nimmt es den langen, verschlungenen Weg durch alle beteiligten Nervenschleifen. Mit zunehmender Übung jedoch findet es Abkürzungen – Verbindungen, die einzelne Stationen überspringen. So wird aus bewusster Kontrolle Routine. Damit löst das Forschungsteam die bisherige Vorstellung auf, wonach unser Verhalten durch zwei getrennte Systeme bestimmt wird: ein schnelles, automatisches und ein langsames, bewusstes. Stattdessen sehen Janssen und ihre Kollegen eine fließende Übergangszone zwischen Kontrolle und Gewohnheit. Welche Route das Gehirn wählt, hängt davon ab, wie stark die neuronalen Schleifen miteinander verknüpft sind.
Ihre Erkenntnisse reichen weit über die Neurowissenschaft hinaus. Die Forscher erkennen Parallelen zwischen Teilen des neuronalen Schaltkreises des Gehirns und den Aufmerksamkeitsmechanismen moderner Transformer-Modelle, also jener Technologie, auf der große Sprachmodelle basieren. „Indem Künstliche Intelligenz künftig ähnliche Abkürzungen wie das menschliche Gehirn nutzt, könnten Systeme effizienter und energiesparender werden“, sagt Janssen. Das sei aber noch spekulativ, so die Neurowissenschaftlerin weiter. Die Arbeit eröffne damit nicht nur neue Perspektiven auf das Lernen und Handeln des Menschen, sondern auch auf die Entwicklung intelligenter, ressourcenschonender KI-Systeme.
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Bild 1 // Gino Massalski// Portrait von Dr. Lieneke Janssen