#16: Wird die EU die Krisen meistern?

Die Welt hat gleich mit mehreren großen Krisen zu kämpfen: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind noch nicht überwunden. Die Klimakrise spitzt sich für uns alle deutlich spürbar zu. Der Angriff auf die Ukraine bringt die wirtschaftliche Stabilität ins Wanken – es drohen eine langanhaltende Inflation, Hungersnöte und Energieengpässe. Hinzu kommt ein akuter Fachkräftemangel. Und auch die Situation zwischen Taiwan und China ist extrem angespannt. Eine echte Belastungsprobe für die Weltgemeinschaft und auch die Europäische Union. Ob diese dem gewachsen ist, darüber spricht die EU-Expertin Prof. Eva Heidbreder im Podcast.

Heute zu Gast

Prof. Eva Heidbreder ist Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt „Regieren im europäischen Mehrebenensystem“ und Inhaberin des EU Jean Monnet Lehrstuhl an der Universität Magdeburg. Sie erforscht, wie die Politik in der EU am besten gestaltet und gesellschaftliche Beteiligung am besten gefördert werden kann. Eva Heidbreder unterrichtet Kernkurse im Bachelor und Master European Studies an der Uni Magdeburg, in denen der internationale Austausch der Studierenden mit ausländischen Studierenden sowie Praktikern durch Exkursionen zum Studienkonzept gehören.

 

 

Der Podcast zum Nachlesen

 

Intro-Stimme: Wissen, wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.

Ina Götze: Das Gute ist, sie gehen irgendwann vorbei. Das weniger Gute: Aktuell beschäftigen gleich mehrere wirklich einschneidende Krisen die Welt und gefühlt kommt irgendwie jeden Tag eine neue dazu. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind noch nicht überwunden. Die Klimakrise spitzt sich für uns alle deutlich spürbar zu. Der Angriff auf die Ukraine bringt die wirtschaftliche Stabilität ins Wanken. Es drohen eine langanhaltende Inflation, Hungersnöte und auch Energie Engpässe.

Hinzu kommt ein akuter Fachkräftemangel in fast jedem Bereich. Und auch die Situation zwischen Taiwan und China ist extrem angespannt. Eine echte Belastungsprobe für die Weltgemeinschaft und natürlich auch die Europäische Union. Und ob diese dem gewachsen ist und am Ende vielleicht sogar gestärkt daraus hervorgeht, darüber spreche ich heute mit Professor Eva Heidbreder. Sie ist Politikwissenschaftlerin und hat sowohl den Lehrstuhl „Für mehr Ebenen Regieren in Europa“ als auch den „EU Jean Monet“ Lehrstuhl inne.

Herzlich willkommen!

Prof. Eva Heidbreder: Hallo.

Ina Götze: Wenn Sie frühmorgens schon die Zeitung aufschlagen, haben Sie da manchmal das Bedürfnis, wieder ins Bett zu gehen, die Decke über sich zu schlagen und in Ruhe gelassen zu werden? Oder sagen Sie sich: Ich bin optimistisch. Es wird alles am Ende halb so wild, wie es jetzt prophezeit ist.

Prof. Eva Heidbreder: Es kommt ein bisschen darauf an, mit welcher Nachricht ich gerade wach werde und natürlich auch auf die Tagesform. So pauschal ist das schwer zu sagen. Aber vor allem die ganz großen Krisen, die Klimaveränderung und auch die Krise, die uns gerade so präsent vor den Augen ist - der Krieg in der Ukraine - lassen, glaube ich, niemanden so richtig kalt, der sich damit auseinandersetzt, wie wir unsere Zukunft gestalten und was ich alles verändern wird.

Von daher habe ich großen Respekt davor und sehe sehr viel Handlungsbedarf und trotzdem auch die Hoffnung, dass es nicht für alle schon zu spät ist, sondern wir wirklich zu handeln beginnen. Vor allem in Anbetracht der Klimakrise, die wir ja momentan alle hautnah erleben.

Ina Götze: Zu handeln beginnen ist tatsächlich ein schönes Stichwort, denn die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat über die EU gesagt: „Ein Land kann ein Schnellboot sein und die EU ist mehr ein Tanker.“ Wie schnell kann denn die EU überhaupt auf Krisen reagieren, vor allem, wenn sie ganz plötzlich aufkommen?

Prof. Eva Heidbreder: Auf Krisen ist jetzt schon wieder ein bisschen schwer zu beantworten. Es kommt natürlich total darauf an, welche Herausforderungen sich die EU gegenübersieht. Man muss schon mal kurz innehalten und sagen: Wer ist denn die EU? Und bei verschiedenen Fragestellungen, bei verschiedenen Problemen, bei verschiedenen Herausforderungen ist das, was die EU ist, zum Teil sehr unterschiedlich. Wenn wir uns zum Beispiel fragen: Wer kann Sanktionen gegenüber Russland aussprechen? So sind das die Staats-und Regierungschefs, die Regierung, die Mitgliedsstaaten der EU und zum Teil, je nachdem, wie sie innerstaatlich organisiert sind, zusammen mit ihren Parlamenten und ihrer ganzen innerstaatlichen Demokratie. Also wer kann ad hoc auf einen Kriegsausbruch reagieren? Die EU sind alle ihre Mitgliedsstaaten. In anderen Bereichen, in Bereichen wie Competition, in Wettbewerbsrecht und anderen Dingen haben die Institutionen in Brüssel erweiterten Handlungsspielraum und können da auch zum Beispiel vor allem immer die Kommission sehr schnell ad hoc auch reagieren auf bestimmte Ereignisse. In all dem entwickelt sich die EU auch.

Als 2008/2009 die globale Wirtschafts-und Finanzkrise zunächst Banken-und dann Finanz-und daraus resultierend Wirtschaftskrise losging, waren in der EU in dem Zusammenspiel zwischen Mitgliedsstaaten, Institutionen, die in Brüssel und Luxemburg und Straßburg sitzen, nicht wirklich Kooperation, Strukturen hinreichend entwickelt, um ganz schnell zu reagieren und die wurden in der Reaktion darauf geschaffen. Und die wichtigste Reaktion, um bei dem Beispiel zu bleiben, kam am Ende von der Europäischen Zentralbank geformten Mario Draghi. Der sagte: „ I will do whatever it takes.“ Und diese eine Intervention, die ziemlich schnell über die Lippen ging, war entscheidend, um für die Mitgliedsstaaten und die Verlässlichkeit der Finanzmärkte wieder Ruhe zu schaffen. Und deshalb ist die EU schnell - meistens nicht, weil eben so viele Akteure, so viele Stellen beteiligt sind - und das meint Ursula von der Leyen, wenn sie sagt, die EU ist ein Tanker, aber die EU kann auch sehr schnell sein.

Und um noch ein Beispiel anzuführen, dass aus der unmittelbaren Vergangenheit kommt: wir wissen alle, dass der Krieg in der Ukraine massive Probleme für die Zulieferung von Gas und Energie mit sich bringt. Und die Mitgliedstaaten, obwohl sie sich Anfang Juni noch gar nicht einig waren, waren ziemlich schnell von dem Vorschlag der Kommission, um den 20. Juli herum bis zum 24. nach Einigung herbeizuführen, nämlich sich gegenseitig solidarisch zu unterstützen, auch wenn das nicht im Interesse aller war. Und da war die EU sehr schnell und in vielen Punkten. Also was macht die EU schnell oder langsam? Grundsätzlich stimmt es, die EU ist ein Tanker. An vielen Entscheidungen, an vielen Reaktionen sind sehr viele Stellen, sehr viele Akteure beteiligt. Aber wenn der politische Wille besteht und in bestimmten Bereichen auch die richtigen Strukturen, dann kann die EU auch schnell sein.

Ina Götze: Kann man sich vorstellen, wenn man mit einer großen Familie in den Urlaub fährt und man dort anfängt zu planen, dann dauert das ja auch eine Weile. Also je mehr Menschen an etwas beteiligt sind, desto länger dauert es natürlich. Die EU lebt ja jetzt aber vor allem von diesem Zusammenhalt dieser Mitgliedsstaaten, dass alle an einem Strang ziehen, auch wenn sie sich erst mal einigen müssen. Sehen Sie eine der Krisen als besonders gefährlich, da für diese Gemeinschaft in irgendeiner Form zu gefährden?

Prof. Eva Heidbreder: Wir hatten ja jetzt eigentlich vor mehr als eine Dekade von Krisen-Rhetorik, sage ich mal, weil es gab schon immer Krisen in der EU. Wenn wir zurückschauen in die EU-Integrationsgeschichte, seine berühmte Riesenkrise, die Charles de Gaulle als französischer Staatspräsident ausgelöst hat, nämlich die Krise des leeren Stuhls. Er war nicht zufrieden mit Mehrheitsentschlüssen zwischen den Mitgliedsstaaten und ist gegangen, hat einen leeren Stuhl hinterlassen. Es war eine riesen Krise und wirklich hat sich über Jahrzehnte die EU-Integration hauptsächlich durch Beschlüsse oder Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs weiterentwickelt und nicht durch politische Entschlüsse. Riesenkrise. Die Krisen, die wir aber seit - es geht los schon 2004/2005 - dass als der europäische sogenannte Verfassungsvertrag abgelehnt wurde. Dann kommt die Banken Fiskal Krise, die sogenannte Migrationskrise und so weiter. Und so weiter. Und auch eine Krise, wie sie genannt wird, nämlich der Anstieg von Anti-EU-Meinungen, politischen Äußerungen, Parteien, die inzwischen auch in Regierungen in verschiedenen Mitgliedsstaaten sitzen. Trotz all dieser Krisen hat sich die EU im letzten Jahrzehnt sehr resilient, sehr widerstandsfähig gezeigt. Ob man daraus schließen soll, die EU wird immer stärker oder schwächer, ist ein grober Pinsel.

Aber die EU ist sehr gut durch diese Krisen letztlich durchgekommen. Und eine Krise ist besonders interessant. Und zwar der Brexit. Was macht den so interessant? Großbritannien oder genauer gesagt: die konservativen Regierungen und vor allem die Regierung unter Johnson, haben ganz klar gesagt: Wir möchten nicht in diesem EU-Kooperations-Konzert mitspielen, sondern es würde uns besser gehen, wenn wir alles alleine entscheiden können und souverän sind. Komplett souverän. Das ist ein bisschen so, wie zu sagen: Ich Mag nicht Monopoly spielen und mich immer an alle Regeln halten. Die Vorstellung Großbritanniens war: Wir spielen weiter zusammen, aber wir können immer unsere eigenen Regeln aufstellen. Jeder, der ein Brettspiel schon mal gespielt hat weiß, dass tötet das Spiel. Weshalb die EU sich auch nicht drauf einlassen konnte. Das hätte das Grundprinzip der EU unterminiert, nämlich es gibt gemeinschaftliche Regeln. Keiner mag die so wirklich immer. Aber weil sich alle daranhalten müssen, funktioniert die EU. Und das hat Großbritannien infrage gestellt. Und erstaunlicherweise waren alle anderen 27 Mitgliedsstaaten in wenigen Stunden oder Tagen davon überzeugt, dass sie davon profitieren, weiter mit am Spielbrett zu bleiben, weiter zu machen. Und das ist der Grundkonsens, auf dem die EU beruht. Man mag einzelne Entscheidungen nicht mögen, man mag auch gegen Einzelentscheidungen schießen.

Was aber die Reaktion auf den Brexit - alle anderen 27, seien sie noch Europa skeptisch - war besser wir bleiben in der EU und halten uns dann daran. Allerdings ist das nicht für immer in Stein gemeißelt und wir sehen an verschiedenen Stellen, dass dieses Prinzip angegriffen wird. Bekannte Fälle sind die Entwicklung in Ungarn, in Polen. Aber wir stehen auch kurz vor einer Wahl in Italien und die Kandidaten mit den aussichtsreichsten Chancen. Giorgia Meloni hat auf der einen Seite postfaschistischen Parteivergangenheit, an der sie von der sie auch nicht ganz lässt, aber die größte Herausforderung und Bedrohung für die EU ist, dass sie sich immer damit profiliert hat, gegen dieses anhaltende gemeinsam EU-Regeln zu stehen und sich nicht daran halten zu wollen. Es ist offen, inwieweit sie das - wird sie denn Regierungschefin in Italien - durchhalten kann, weil das den Verlust von Milliarden für Italien bedeuten könnte oder würde.

Aber diese Hinterfragung des Grundprinzips der EU, dass wir alle irgendwie miteinander verknüpft sind und, dass am Ende die Kooperation sich lohnt, die wird immer wieder in Frage gestellt und das ist meiner Meinung nach wirklich die größte Herausforderung für die EU.

Ina Götze: Hoffen wir, dass sie sie meistert. Was muss denn die Europäische Union denn jetzt machen, damit genau das nicht passiert, dass sie eben nicht auseinanderbricht?

Prof. Eva Heidbreder: Ob sie direkt auseinanderbrechen würde, würde ich auch in Frage stellen, weil es ein sehr komplexes und gesetteltes System ist. Das ist ein bisschen so: was müsste Deutschland passieren, dass es auseinanderbricht? Wir betrachten die EU immer so, als wäre sie da irgendwo. Und dann sind da die Staaten. Das stimmt aber nicht. Die Staaten sind Teil der EU. Das sehen Sie auch wieder an Großbritannien. Großbritannien möchte sich daran abarbeiten, die EU-Gesetzgebung loszuwerden. Aber der größte Teil EU-Gesetzgebung sind nationale Gesetze, die verschwinden ja nicht einfach. Und wie schon gesagt haben alle EU-Mitgliedsstaaten ein Interesse auch an dem was auch alle sehen, an den Vorteilen der EU. Ich glaube also nicht, dass die EU einfach zerbrechen würde und ich weiß auch nicht genau, was es heißen würde „Zerbrechen“. Dass wir das Parlament in Brüssel zuschließen oder abflackern. Als zerbrechen ist schwierig, erstmal zu definieren. Aber diese Erosion von rechts Einhaltung. Das heißt, dass Staaten zunehmend zwar Beschlüsse fassen, gemeinsam, aber sich dann nicht daranhalten. Das ist eine Tendenz, der entgegenzuwirken ist. Und ich glaube, die EU ist an einem Punkt - und das zeigt der Krieg in der Ukraine auch ganz klar - indem bestimmte Grundsätze von kooperativen, liberalen, demokratischen Ordnung in den Mittelpunkt rücken müssen.

Die Europäische Union war in ihrer Anfangsphase überhaupt nicht so ein Friedensprojekt oder Demokratieprojekt, wie jetzt immer in sie rein projiziert wird. Am Anfang nach dem zweiten Weltkrieg waren viel mehr der Europarat für Friedenssicherung zuständig und ganz viele internationale Organisationen und Organisationen, die in Europa und an verschiedenen Stellen aus dem Boden geschossen sind. Und wie ein Kollege Kiran Patel an der Uni München Historiker sehr schön herausgearbeitet hat, war der friedenssichernde Effekt der europäischen Gemeinschaft und dieser Integration. Vor allem, dass sie Wohlstand geschaffen hat durch die gemeinsame Agrarpolitik, Regionalpolitik, das war der große friedenssichernde Effekt. Stabilität und Sicherheit, das war auch der Grund, warum Großbritannien 73 beigetreten ist, nachdem das Kolonialreich futsch war. So also europäische Integration in der Anfangsphase in den ersten Jahrzehnten ging darum, wirtschaftlich zu konsolidieren, Wohlstand zu schaffen und die Staaten tatsächlich auch im Sinne einer Friedenssicherung aneinander zu binden und Kooperationsmöglichkeiten zu schaffen. Darin waren diese europäischen Gemeinschaften so wahnsinnig erfolgreich, dass sie sich dann hin zur Europäischen Union entwickelt haben. Und damit kommen dann die Fragen auch von Demokratie und den Dingen. Die waren von Anfang an auch gar nicht so zentral und vordergründig das Ziel der Europäischen Union. Das taucht auf, oder es kommt erst mit der Gründung der Europäischen Union, dass diese politischen Ziele auch definiert werden. An der Stelle, wo wir jetzt sind, hat die Union, aber ihren Aufgabenspektrum wahnsinnig erweitert. Und andere Kollegen sagen ja, die ersten Jahrzehnte europäische Integration, da gab es schon stillschweigenden Konsens. Allen ging es damit besser, fein. Da war auch politische Mitgestaltung nicht so wichtig. Spätestens mit der Fiskal-Krise ist allen klar, ich kann durch EU-Intervention richtig verlieren.

Das kann meinen Lebensstandard senken oder erhöhen. Und wenn umverteilt wird, wenn wir Politiken machen, wo Einigen genommen wird und anderen gegeben und das ist sichtbar, dann haben wir ganz großes Konfliktpotenzial und da kommen wir um demokratische Legitimierung nicht mehr drum herum. Und gleichzeitig, und das sehen wir am Krieg in der Ukraine, sind Fragen von Rechtsstaatlichkeit, von einem klaren Commitment, von einer klaren Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Grundprinzipien zentral, weil sonst auch die EU nicht weiter funktionieren kann, wenn die Staaten sich nicht mehr dranhalten. Die EU ist einfach ein riesen, riesen Rechtsgebilde und wenn sich Staaten nicht mehr daranhalten, dann fängt sie an zu zerbröseln. Also was braucht die EU um den Zusammenhalt zu halten? Ich glaube, sie muss in den Bereichen von Rechtsstaatlichkeit und liberaler demokratischer Ordnung in ihren Mitgliedsstaaten nachlegen. Und auch dazu gibt es erste Entwicklungen. Da gibt es erst Entwicklung und das ist ganz spannend, wie die EU da auch funktioniert.

Da jagt vor allem das Europäische Parlament die Europäische Kommission, weil die europäische Ebene verschiedene Mittel hat, Mitgliedstaaten auch in die Verantwortung zu nehmen. Und 2021 wurde ein großes Finanzpaket beschlossen, das gegen die Auswirkungen der Covid-Krise Mitgliedsstaaten stärken soll. Und zum ersten Mal wurde die Ausschüttung dieser Mittel und das sind so viele Mittel hatte die EU noch nie in der Hand. Das ist einfach viel, viel mehr an eine Konditionalität auch mit Rechtsstaatlichkeit gehalten und die Einhaltung dieser Dinge. Auch wenn die Krise noch so groß ist, auch wenn der Druck noch so groß ist, dass einige Staaten sich wunderbar um ukrainische Flüchtlinge kümmern und so weiter. Die wird zentral wichtig, um diese Grundpfeiler der EU zu stärken und zu bewahren.

Ina Götze: Die EU muss also ihre Kinder erziehen, sozusagen, wenn man das so nimmt.

Prof. Eva Heidbreder: Es geht nicht. Es geht nicht, dass die EU, wer geht in die Mitgliedsstaaten ihr müsst aber so, das geht nicht, das gibt es nicht. Die EU ist ihre Mitgliedsstaaten. Ich kann Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Ich war mal im Europäischen Parlament eingeladen. Wir haben tatsächlich ein Buch vorgestellt über den Euro und ob der Identität gestiftet hat. Und es hat uns der Vizepräsident des Parlaments eingeladen, ein Italiener. Und dann kam ganz wenige Abgeordnete. Und dann sagte der Vizepräsident: Na ja, warum soll das Europäische Parlament besser sein als die nationalen Parlamente? Ja, warum denn.

Ina Götze: Weil es eben an den Personen liegt…

Prof. Eva Heidbreder: Die EU sind ist die Gesamtheit der vielen EU-Bürgerinnen und Bürger, ihrer Parlamente, ihrer Regierung und der europäischen Institutionen, das ist die EU, das ist der große Tanker. Aber wenn Teile nicht funktionieren und ich nicht mitmache, dann stockt der Tanker.

Ina Götze: Mal angenommen, es kommt wirklich zu Versorgungsengpässen, dass es zu wenig Gas gibt, dass gewisse Grundnahrungsmittel unter Umständen knapp werden. Wird dann Import/Export noch funktionieren oder schaut dann jedes Land tatsächlich, dass er die Waren für sich behält und seinen eigenen Wohlstand sichert?

Prof. Eva Heidbreder: Innerhalb der EU-Import/Export ist im Binnenmarkt so gar nicht mehr existent. Waren bewegen sich im Binnenmarkt frei. Allerdings haben wir in den verschiedenen Krisen, die wir haben, gesehen, dass tatsächlich die freie Grenzdurchlässigkeit von Mitgliedsstaaten immer mal wieder beschränkt wurde, und zwar auch maßgeblich beschränkt wurde. Großer Kampf der Europäischen Kommission, das zu erhalten und das wirklich nur als Ausnahmeregelung zuzulassen. Aber Import/Export ist da nicht so das entscheidende Kriterium. Und auch da wieder kommt es wirklich sehr drauf an: Wer braucht was und wie? Wir sprechen ja vor allem über die Gasversorgung und da - das habe ich schon erwähnt, haben die EU-Mitgliedsstaaten unlängst beschlossen. Es ist jetzt am 5. August in Kraft getreten, - dass sie solidarisch beieinanderstehen wollen und sich unterstützen. Das war für einige ganz schön schwer, für einige Mitgliedsstaaten, die seit Jahren sagen: das kommt auf uns zu, wir müssen uns um unsere Energiesicherheit kümmern. Und die ihre Tanks wirklich voll haben, weil sie das haben kommen sehen und die nicht besonders amüsiert waren, wenn dann ein großer Mitgliedsstaat daherkommt und sagt: Wir sind aber die größte Wirtschaftsmacht in Europa und deshalb müsst ihr uns jetzt was abgeben.

Was auch eine interessante Argumentation ist in einem europäischen Zusammenspiel. Andere sagen, wir sind aber sehr klein und wir haben nur Gas. Das heißt, wenn wir nicht so viele wären, geht gar nichts mehr bei uns und so weiter. Und dazu hatten wir noch, bevor diese Ukraine Krieg heiß losging, im Februar eine lange Debatte darüber, wie wir denn aus fossilen Brennstoffen überhaupt aussteigen und welche Brückentechnologien wir benutzen wollen. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere daran, dass wir damals über Taxonomien gesprochen haben und in Deutschland die Aufregung ganz groß war, dass Franzosen als Brückentechnologie die Nuklearenergie weiternutzen.

Ina Götze: … stimmt da war was, ja. (lacht)

Prof. Eva Heidbreder: Genau und in dieser Gemengelage reden wir darüber. Was aber wirklich beeindruckend und interessant ist, dass mit explizitem Verweis auf Solidarität untereinander und auf Interdependenz, auf gegenseitige Abhängigkeit voneinander die Mitgliedsstaaten beschlossen haben, ihren Energieverbrauch bis von August jetzt bis März um 15 % im Vergleich zum Mittel der letzten fünf Jahre zu senken. Und das wollen alle tun mit einer ganzen Liste von Ausnahmen von Staaten, die gar nicht in dieses Gesamtnetz eingebunden sind und Staaten, die ihre Tanks ganz besonders voll haben und so weiter. Aber für einige war das ein ziemlich großer Schritt und da funktioniert die EU da so gut wie sie nur kann. Nämlich ein gemeinsames Verständnis zu schaffen über gegenseitige Abhängigkeiten, die zu definieren und dann diese EU-Infrastruktur nutzen, um damit verbindliche Entscheidungen zu treffen, mit denen man agieren kann. In diesem Beschluss vom 5. August muss man auch sagen, die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, Energieverbrauch zu senken, aber zunächst mal freiwillig. Und der Beschluss hat noch eine Klausel drin, dass sollte es freiwillig nicht klappen, dann ein Alarmmechanismus ausgelöst werden kann. Entweder durch fünf Behörden aus Mitgliedsstaaten, die sagen: okay, bei uns geht jetzt gar nichts mehr oder durch die Kommission, die alles monitored, begutachtet. Und dann kann wieder der Rat der EU, also die nationalen Regierungen, beschließen, das sie doch diese Ziele verbindlich machen, oder in welcher Form.

Aber das war eine ziemlich schnelle Entscheidung, und zwar eine tiefgreifende und interessant sind zwei Dinge: der Verweis auf Solidarität und diese sehr klare Definition ansonsten gehen wir zusammen unter. Und das ist sehr interessant, weil der Begriff der Solidarität auch in den EU-Verträgen, in der Verfassung verankert ist, sehr schwer greifbar ist und hier wird er praktisch tatsächlich angewandt auf einen Bereich, der für alle ziemlich heikel ist.

Ina Götze: Glauben Sie, dass dieses Verständnis von Solidarität und Abhängigkeit so verinnerlicht ist, dass sich alle freiwillig daranhalten? Oder wird es am Ende vielleicht doch eine Gesetzgebung geben müssen?

Prof. Eva Heidbreder: Das ist schwer zu sagen. Also es ist außerdem, wie verinnerlicht man das? Ja, also auch aus dem zwischenmenschlichen Bereich gibt es vielleicht einen Film, gibt es immer, diese absolut loyalen Typen, die einfach alles machen und dafür untergehen. Es kann ja kein Regierungschef sagen, es ist mir ganz egal für die europäische Solidarität lasse ich meine Bürger untergehen.

Das ist so mit so einer Verinnerlichung schwer zu fassen. Es ist aber als politisches Instrument ganz klar gestaffelt zu sagen: Wir versuchen es freiwillig. Wir haben aber dieses Schwert der möglichen Steuerung in der Hinterhand. Und alle empirischen Studien zeigen, dass freiwillige Vereinbarungen eigentlich nur dann funktionieren, wenn man auch nach regulieren könnte. Egal was, egal was. Wer will bestimmte Kosten auf sich nehmen, wenn es am Ende sowieso nicht geprüft wird. Und das ist in dem Sinne technisch, sagen wir politisch, technisch richtig gemacht. Ich denke, dass das Commitment dahinter bestimmt ehrlich und gut ist und deshalb auch die vielen Ausnahmeregelungen. Da kann man sagen: ach so viele Ausnahmen, ist das jetzt gut oder nicht? Hätte man nicht etwas Härteres durchsetzen könnten für die Umsetzung. Am Ende ein ehrlicher Kompromiss, wo jeder auch mit nach Hause gehen kann und sagen kann: Guckt, das ist für uns drin. Ihr habt mich gewählt als Staats-oder Regierungschefin und das habe ich für euch mitgebracht. Kann viel besser funktionieren als eine harte Entscheidung, wo dann alle sich zu Hause verbiegen müssen.

Ina Götze: Aktuell wollen ja sieben weitere Staaten in die EU aufgenommen werden, darunter Ukraine, Serbien, Albanien. Alles Länder, in denen es politisch, sagen wir, etwas „knirscht“. Können dann leichtere Beitrittsregelungen für diese Länder und die Aufnahme der Länder dazu führen, dass die EU gestärkt wird jetzt?

Prof. Eva Heidbreder: Gestärkt? Worin und wie? Bei der letzten ganz großen Beitrittsrunde der sogenannten Osterweiterung hatten verschiedene Gruppen von Mitgliedsstaaten verschiedene Interessen. Es gab die Starken - also das fällt zusammen,‘93 geht der Prozess los, das fällt zusammen mit der Gründung der Europäischen Union zu einer ganz großen Vertiefung, weg von den Europäischen Gemeinschaften. Die EU, die Europäischen Gemeinschaften werden zur Europäischen Union, geben sich eine neue politische Identität und Integration. Die EU wird größer inhaltlich und gleichzeitig klopfen 14 Staaten an und wollen beitreten. So wie reagiert die EU darauf? In dem Moment gab es die Staaten, die gesagt haben: Okay, geopolitisch, lass ganz schnell die Staaten aufnehmen. Die EU wird größer, Tony Blair, damals Premierminister in Großbritannien, hat das in einer berühmten Rede so zusammengefasst: the EU should be a superpower, but not a super state.

Und das kam ganz gelegen zu sagen: Wir werden größer werden, geopolitisch wichtiger. Die Staaten, die beitreten wollen, sind dem Ostblock entrissen und in der EU. Aber gleichzeitig für diese politische Integration, dass die EU mehr staatsgleich wird und immer mehr Kompetenzen hat oder immer mehr Dinge gemeinschaftlich auch koordiniert, werden ein bisschen verlangsamt. Großbritannien hat in dem Sinne übrigens auch und das hat sich beim Brexit dann gezeigt, gesagt: wir brauchen gar keine Übergangsfristen, die neuen Staaten treten bei und alle Arbeitnehmerinnen dürfen sofort freizügig zu uns kommen und so weiter.

Das war der eine Pol und der andere war der von Frankreich, die sagten: Na ja, wir haben jetzt gerade vertieft und wir können nicht so schnell neue Staaten aufnehmen und auch nicht so viele. Das macht unseren Integrationsprozess kaputt. Wie sollen wir dann mit so viel neuen Interessen den weiter voranbringen? Und das waren so die zwei Pole, zwischen denen waberte es und was daraus entstanden ist, ist ein strukturierter Beitrittsprozess. Den gab es davor so nicht. Nämlich zu sagen: die Staaten, die beitreten wollen, müssen bestimmte Kriterien erfüllen. Die müssen in der Lage sein, ökonomisch an der EU teilzunehmen, diesen ganzen Binnenmarkt, diesem ganzen Wirtschaftsdruck standzuhalten. Sie müssen in der Lage sein, das ganze Rechtsgefüge der EU zu übernehmen, das wurde damals auf 30.000 Seiten Recht geschätzt. Man wusste auch gar nicht genau, was haben wir denn da alles und wie. Und das musste kodifiziert werden. Und dann umgesetzt werden. Und drittens sie müssen ihre Minderheiten entsprechend schützen. Und hinzugekommen ist noch, dass die Institutionen der Staaten in der Lage sein müssen, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie umzusetzen. Sind die Staaten, die sich jetzt beworben haben, da? Nein, gerade in den Bereichen von Korruption, von institutionellem Funktionieren und so weiter. Nein. Und auch bei ganz grundsätzlichen Demokratiefragen. Und was wir gelernt haben nach der Osterweiterung ist: die EU war ganz gut, Reformen und Prozesse in Kandidatenstaaten anzustoßen.

Aber als die Staaten dann Mitglieder waren, haben wir in vielen zentral osteuropäischen Staaten dann Backlash, ein Rückfall gesehen. Und da haben wir auch ein bisschen was gelernt in dem Sinne, dass natürlich der Umbau von Institutionen, die Schaffung von funktionierenden Institutionen sehr langwierig sind und die Stabilisierung viel länger braucht. Aber weil die EU kein Staat ist, darf niemand auf der europäischen Ebene sagen: ihr in den Mitgliedsstaaten müsst aber Demokratie so machen.

Das gibt es nicht, weshalb die EU sehr schwach ist, das zu regulieren oder da einzugreifen. In genau diesem Zielkonflikt befindet sich die EU gegenüber den Staaten, die sie aufgezählt haben. Geopolitisch und aus großen Sicherheitserwägungen wäre vielleicht eine schnelle Aufnahme der Ukraine oder auch von Balkanstaaten für einige sehr wünschenswert und die Position vertreten gegenüber der Ukraine, vor allem auch einige Staaten sehr vehement für die Weiterentwicklung der EU, die Funktionsweise und vor allem für das, was ich vorhin gesagt habe, die Stabilisierung der EU in den Mitgliedsstaaten. Also stabile demokratische Ordnung in den Mitgliedsstaaten zu haben, ohne die die EU nicht funktioniert, die die EU aber nicht vorschreiben kann, ist eine schnelle Aufnahme der Staaten sehr schwierig. Das gibt es dazwischen. Es gibt jetzt den sogenannten Kandidatenstatus und es gibt ganz viele Zwischenschritte und vor allem die Beteiligung an europäischen Politiken und vor allem Finanzprogrammen und Unterstützungsprogrammen, die schon laufen. Und viele dieser Staaten und vor allem auch die Ukraine und Moldau haben verstärkte Kooperations-und Assoziierungsabkommen und Wirtschaftsabkommen. Da fließt sehr viel Geld schon seit Jahren in die Staaten und da ist sie, diese wirtschaftliche Integration und Freizügigkeit, schon sehr weit fortgeschritten.

Was Sie auch daran sehen, dass Flüchten aus der Ukraine braucht kein Visum. Das war ja schon alles vorher geregelt. Die Assoziierung ist schon sehr weit fortgeschritten in vielen Bereichen, vor allem wirtschaftlich. Was auf der anderen Seite das, was man noch anbieten kann natürlich, dass die Möglichkeiten etwas reduziert. Also ganz schnelle Erweiterung, aus mancherlei Hinsicht vielleicht wünschenswert, aber ich halte das nicht für besonders realistisch. Ich glaube, diese Verfahren, wie sie im Rahmen der Osterweiterung entwickelt wurden, sind unumgänglich und sind auch gegenseitig zum großen Teil. Ein Staat, der der EU beitritt, aber wirtschaftlich ein riesengroßes Gefälle zum Rest der EU hat, wird wirtschaftlich sehr große Schwierigkeiten haben, im Binnenmarkt zu bestehen. Auch das ist für keine Seite wirklich wünschenswert.

Ina Götze: Ich wollte gerade sagen, da ist keinem geholfen. Ein Beitrittskandidat eigentlich schon seit ziemlich langer Zeit ist ja auch die Türkei und Präsident Erdogan trifft sich auch regelmäßig mal mit Putin. Würde es vielleicht Sinn machen, die Türkei schneller zuzulassen, damit sie sich nicht zu stark mit Russland verbünden? Oder wäre das etwas Ähnliches sozusagen?

Prof. Eva Heidbreder: Meinen Sie ernsthaft, dass wenn die Türkei in der EU wäre, Erdogan sich sagen lassen würde, mit wem er sich trifft?

Ina Götze: Vermutlich, nein.

Prof. Eva Heidbreder: Da hätte ich auch Zweifel. Und aus der Erweiterungsforschung wissen wir, der Hebel auf Kandidatenstatus ist größer als der auf Mitgliedsstaaten - kurze Antwort. Wie ist die Türkei zum Kandidatenstaat geworden? Es gab ein Assoziierungsabkommen aus den 60er Jahren mit der Türkei. In den 60er Jahren kam niemals niemand auf die Idee, dass der Kalte Krieg, der sich voll entfaltet hatte, beendet würde und die EU von sechs Mitgliedsstaaten, auf 27/28 anwachsen würde. Und in dem Assoziierungsabkommen war auch so eine Beitrittsklausel drin. Nach 91 in den Assoziierungsabkommen mit den zentral-und osteuropäischen Staaten wurde so eine Klausel nicht mehr reingeschrieben, weil man gesagt hat, wer weiß und sich die Mitgliedsstaaten noch gar nicht so einig waren über eine schnelle oder langsame oder gar keine Osterweiterung. Daher rührt diese Beitrittsoption der Türkei. Im Rahmen der Osterweiterung haben dann alle die Türkei überholt.

Zum großen Unmut der türkischen Regierung. Und deshalb wurde, als dann beschlossen wurde, wer alles beitritt. Mitte der Neunzigerjahre dann auch die Türkei, wurde auch der Türkei dieser Kandidatenstatus gegeben, aber damals auch noch vor dem Hintergrund, dass die Türkei wirklich viele Reformen umgesetzt hat und auf dem Weg war. Mit aber einigen fundamentalen Herausforderungen, nämlich wirklich wieder Rechtsstaatlichkeit und Grundordnung und auch vor dem Hintergrund, dass die Türkei riesengroß sind.

Die Türkei hat soviel Einwohner, mit Abstand größte Mitgliedsstaat. Und dann im nächsten Schritt ich hatte Frankreich erwähnt und die Skepsis in Frankreich können wir schnell eine große Osterweiterung machen. Wie sehr unterminiert das unser Ziel, die EU zu stärken und zu vertiefen? Und vor allem in Frankreich war der Appetit auf weitere Erweiterung sehr gering. Es gab sogar zwischenzeitlich eine Verfassungsänderung in Frankreich, dass es ein Referendum über weitere Erweiterung innerhalb Frankreichs geben müsste. Und das war ganz klar auf die Türkei gemünzt, dass nicht die Türkei beitreten kann. Dass ein Beitritt, ein schneller Beitritt der Türkei in die EU an dem Verhalten Erdogans irgendetwas ändern würde, bezweifle ich, glaube ich überhaupt nicht. Und, dass Erdogan momentan ein riesengroßes Interesse an einem EU-Beitritt hat, auch und da wird dieser Status Quo, dass die Türkei Kandidatenstaat ist und das bleibt und man im Gespräch ist, formell ist vielleicht in der Situation pragmatisch gesehen das Beste, was drin ist.

Ein Argument gegenüber dem Beitrittsprozess mit der Türkei ist allerdings auch, dass die EU mit ihren Gegenleistungen für die Türkei zu langsam war und dass diese Option, der EU beizutreten, irgendwann nicht mehr glaubwürdig war. Und, dass das auch mit eine Ursache für die Entwicklung in der Türkei sind. Dass die EU, dass die Türkei sich eigentlich mehr weg bewegt hat von der EU-Mitgliedschaft als weiter darauf hin. Das ist jetzt als Politikwissenschaftlerin sehr schwer zu überprüfen, weil es nur eine historische Entwicklung gibt. Und darauf habe ich auch keine wirklich gute Antwort. Aber es ist wichtig, das auch mit zu bedenken, welche Angebote die EU an die Türkei gemacht hat. Und der Widerstand in einigen Hauptstädten war massiv gegen einen schnellen Türkeibeitritt. In meiner Einschätzung tendiere ich aber eher dahin, dass ich auch nicht glaube, dass ein Beitritt der Türkei vor 10/15 Jahren dazu geführt hätte, dass die Türkei heute einer fundamental anderen politischen Situation wäre.

Ina Götze: In der Anmoderation hatte ich es ja schon erwähnt: der Konflikt zwischen China und Taiwan ist sehr, sehr angespannt, hat sich etwas beruhigt, aber so richtig sicher ist es ja auch nicht. Würde die EU denn auch gegen China Sanktionen erheben und könnte sie die durchhalten, grundsätzlich gegen China als Riesenland? Und auch zusätzlich noch mit den Sanktionen die ja gegenüber Russland immer noch bestehen?

Prof. Eva Heidbreder: Schwere Frage. Hier kommt wieder dieses Grunddilemma, in dem die EU steckt zum Tragen. Um sich selbst zu behaupten und ihre Grundfesten kann sie nicht zulassen oder einfach stillschweigend hinnehmen oder sich beugen, dass Staaten internationale Rechtsordnungen einfach aufgeben. Und das ist ein wichtiger Kernpunkt, sowohl des Krieges in der Ukraine als auch gegenüber China. Die EU und die internationale Ordnung beruht momentan darauf, dass wir bestimmte internationale Normen und internationales Recht haben und sich die Staaten mehr oder weniger daran halten. Was verändert der Krieg in der Ukraine?

Russland stellt offen zur Schau, dass sie sich nicht daranhalten und dass es ihnen ganz egal ist. China hat das noch nicht öffentlich so getan. China verurteilt aber nicht die Position Russlands. Wenn China auch offensiv gegen internationales Recht vorgeht oder sagt: das ist für mich nicht mehr gültig. Haben wir eine Krise globalen Ausmaßes, für diese in den letzten Jahrzehnten stark durch westliche demokratische Ordnung geprägte Weltordnung, deren Ausmaß wir gar nicht abschätzen können. Daher, weil die EU eigentlich nur genauso ein Übereinkommen ist, dass man internationales Recht schafft und sich daranhält, wird es ihr sehr schwerfallen, da zu sagen: okay, das nehmen wir so hin. Weil dann quasi der Auflösung überhaupt kein Riegel mehr vorgesetzt werden kann. Umgekehrt ist die EU natürlich - oder die Staaten der EU – sind überhaupt nicht dem gewachsen. Dass sie sagen würden: wir stellen sämtlichen Handel mit China ein. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dann genau darauf reagiert wird. Aber diese grundsätzliche Frage von Ordnung, von internationaler Ordnung würde damit so in den Grundfesten erschüttert, dass irgendeine Reaktion notwendig sein wird, wie umfassend sie sein wird und wie strikt in der Umsetzung sein wird.

Zweiter Punkt Ich kann auch überhaupt nicht abschätzen, wie, wenn es wirklich knallt und zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt, wie dann die USA mit beteiligt werden und gegebenenfalls die NATO. Was das für Auswirkungen für uns alle hat.

Ina Götze: Wir hoffen einfach darauf, dass das nicht passiert.

Prof. Eva Heidbreder: Hoffen es gut. Vielleicht ist noch besser, dass klare politische Signale gesandt werden. Und das macht die Frage des Ukraine Kriegs wirklich wichtig, wie der Umgang mit Russland ist und wie gut die EU-Mitgliedsstaaten zusammenhalten, wie solidarisch sie tatsächlich sind. Und das spielt auch eine Rolle in der Frage, ob die Mitgliedsstaaten es hinbekommen, mit den verringerten Gaslieferungen gemeinsam umzugehen. Wenn es klappt, die EU-Mitgliedsstaaten da leicht auseinander zu dividieren, dass sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen und gemeinsam einen Wettstreit losbrechen, dann ist es auch für andere Staaten einfacher zu sagen: Naja gut, probieren wir mal was.

Ina Götze: Nun sind es ja nicht die ersten Krisen für die EU. Sie hatten es ja schon gesagt Flüchtlingskrise, Brexit, Finanzkrise. Was können wir denn aus den vergangenen Herausforderungen für die jetzige Situation lernen?

Prof. Eva Heidbreder: Es hieß am Anfang dieser Krisenzeit: eine Krise heißt Chance, was auf Chinesisch. Und was können wir lernen? In manchen Bereichen, denke ich, hat die EU etwas gelernt. Vor allem, wenn wir uns anschauen, wie im Bereich der Fiskal-und Wirtschaftspolitik mit der Covidkrise anders umgegangen wurde als mit der Banken-und daraus resultierenden Staatsschuldenkrise, 2008 und 2009. In der Banken-und Staatsschuldenkrise war vor allem Deutschland ausgerufen.

Das Motto: wenn die Staaten, die unter Druck stehen, zu schnell Geld bekommen und quasi denen geholfen wird, dann werden die das ausnutzen und das Geld ist alles verloren. Deshalb müssen wir da hart sein und das muss ganz harte Konditionen geben und die müssen das haben und müssen große Reformen machen. Zum Teil lag es an der Regierungsführung und an den Strukturen in den Staaten, zum Teil lag aber die Krise auch nicht daran, sondern am vernetzten Bankensystem, was gecrasht ist, und auch an bestimmten Funktionsweisen der Eurozone. Das hat diese ganze Rettung von Griechenland um Milliarden teurer gemacht. Dass man nicht schnell reagiert hat und gewartet hat, bis nicht politische Entscheidung, sondern Draghi als Zentralbank gesagt hat: nein, wir werden da so lange unterstützen, bis der Euro wieder steht. Weil das wurde immer weitergetrieben und es wäre immer weitergetrieben, wenn nicht jemand gesagt: Nein, es gibt Sicherheitsmaßnahmen, das wird nicht passieren.

Es wurde eine Bankenunion geschaffen, es wurden neue Sicherheitsmaßnahmen geschaffen und vor allem hat die Politik auf die Covidkrise anders reagiert. Und da war auch wieder Deutschland und Angela Merkel erstaunlich und hat ganz anders reagiert als in der sogenannten Griechenlandkrise, und zwar mit diesem sogenannten Reconciliation Recovery, dem Wiederaufbau Fonds. Weil gesagt wurde: na ja, die Staaten, die besonders unter Druck stehen, vor allem Italien auch das ist ja nicht selbstverschuldet diesmal, das war ja Covid. Und wenn die jetzt wirtschaftlich einbrechen, dann kriegen wir wieder so eine fürchterliche Kettenreaktion. Und dann kommt der Euro wieder unter Druck, deshalb müssen wir jetzt schnell Geld reinpumpen. Und wir machen das, was wir noch nie gemacht haben: wir nehmen Geld von internationalen Märkten auf, wir nehmen Schulden auf. Eigentlich, so heißt es nicht im Deutschen es darf nicht Schulden heißen, weil Schulden darf nicht sein oder Eurobonds oder was in der Art. Aber wir nehmen Schulden auf als EU und haben einen Mechanismus, dass wir den aus den staatlichen Beiträgen in den nächsten Jahrzehnten zurückzahlen und damit haben wir einen riesen Topf und das Geld schütten wir daraus in die Staaten, die besonders unter Druck stehen.

Und es eine ganz andere Reaktion und das machen wir schnell um zu stabilisieren. Ganz andere Reaktion, sowohl institutionell – ein neuer Aufbau, um bestimmte Dinge, nicht, dass wieder kommt: in der Bankenkrise niemand wusste, was in den Banken los ist. Man wusste es nicht. Keiner kannte die Bücher, niemand wusste wie viel, aber niemand wusste das. Wir haben jetzt inzwischen in der Bankenunion Kontrollmechanismen, Überprüfungsmechanismen und vor allem auch bestimmte Reserven, dass die Banken sich auch selber ein Stück weit retten können müssen.

Das wird, wenn es Spitz auf Knopf kommt und vielleicht auch nicht unbedingt reichen. Aber die Reaktion und die ganze Argumentation auf die Covidkrise war eine ganz andere. Nicht zu sagen, die Staaten sind ja selber schuld oder die hätten eher machen müssen. Und außerdem haben die sowieso einen schrecklichen Haushalt, sonst hätten sie ja auch selbst reagieren können. Das kam nicht.

Und das Erstaunliche ist: wir haben in Deutschland das gar nicht debattiert. Das ist so durch - mit eben dieser massiven Schuldenaufnahme. Wir reden über 750 Milliarden Euro und so viel Geld hat die EU noch nie an ihre Mitgliedsstaaten ausgeschüttet.

Ina Götze: Interessant. Also, der Tanker ist lernfähig und ab und zu auch mal agil. (lacht)

Zum Abschluss schauen wir noch mal optimistisch in die Zukunft - also hoffentlich. Wenn die ganzen Krisen überstanden sind, wie wird sich denn die EU verändert haben und wird sie gestärkt daraus hervorgehen?

Prof. Eva Heidbreder: Ich glaube nicht, dass wir irgendwann an den Punkt kommen, wo die ganzen Krisen überstanden sind und nicht schon eine nächste Krise da ist. Deshalb ist diese Betonung von Krise vielleicht auch gar nicht so zweckdienlich. Politik ist dafür da, mit Herausforderungen umzugehen. Und die Welt ist immer voller Herausforderungen. Was vielleicht ein bisschen anders ist, als in den 90er und den ersten 2000er Jahren, ist, dass die globale Weltordnung für eine Zeit ziemlich ruhig war. Kalter Krieg war vorbei. Es gab nur noch die USA als Supermacht und es war relativ ruhig. Und manche haben sogar gesagt: the end of history had begon. Der Wettstreit um Macht, um Vorherrschaft global, ist wieder voll im Gange. Der war auch im Krieg in Syrien schon sichtbar und an verschiedenen Stellen, es brodelt seit einer Weile und das wird bei uns bleiben und sagen wir, da ist viel mehr Unsicherheit im internationalen System, als wir es aus den letzten Jahrzehnten in der EU so gemütlich gewohnt waren.

In vielen Bereichen ist die EU tatsächlich in genau den Bereichen durchaus gestärkt oder sagen wir etwas resilienter hervorgekommen hat sich erst mal als resilient, als widerstandsfähig bewiesen. Sie ist nicht am Brexit zerbrochen. Es sind keine Staaten hinterhergekommen, die das wollten. Sie ist nicht an der sogenannten Eurokrise zerbrochen. Und ich würde sogar auch mal kontrafaktisch - wir haben keinen zweiten Fall, wie wir diesen Bankenkrisenverlauf mit Euro oder ohne vergleichen können.

Ich würde vermuten, dass die Mitgliedsstaaten sie viel weniger unterstützt hätten, hätten wir nicht den gemeinsamen Euro gehabt und daraus den Zwang, dass wenn man Griechenland nicht unterstützt, eben auch der Euro für Deutschland dann zusammenkracht. Und ich glaube, dass der letztlich und der Aufbau weiterer Institutionen und politischer Instrumente die EU da gestärkt hat. Wenn wir uns den Ukraine Krieg gerade noch mal anschauen und verschiedene Politikbereiche, dann sehen wir, dass in einigen tatsächlich auch einiges vorangeht. Der Bereich Energie in Kombination mit den ganz großen Programmen, die die Kommission ausgerufen hatte, nämlich die klimaneutrale Umgestaltung von Energie, Versorgung und auch viel Geld, das da im Umlauf ist. In anderen Bereichen tut sich weiterhin gar nichts. In dem Bereich von Migrationspolitik - einige haben gesagt: ach schaut, Polen verhält sich jetzt ganz anders als kurz vorher noch an der belarussischen Grenze -wo sich Polen immer noch so verhält, wie es sich vor dem Ukraine Krieg verhalten hat.

Aber substanziell schreitet in dem Bereich, in dem die EU sehr damit kämpft Einigung zu finden, nichts voran. Der Umgang mit den ukrainischen Flüchtlingen ist anders, weil eine findige Person in der Kommission wirklich gemerkt hat: ach, wir haben ja eine Notfall-Verordnung aus dem Jahr 2001. Damals vor dem Hintergrund des Kriegs im Balkan, der ermöglicht, dass wir für ein Jahr oder für einen Zeitraum, den wir festlegen, Geflüchteten einen besonderen Status geben, zum Beispiel Freizügigkeit im Binnenmarkt, dass sie einfach überall hingehen können und Arbeit suchen und sich niederlassen können, wo sie wollen.

Und diese Rechtsgrundlage hat man genutzt. Aber, dass sich irgendwas substanziell in der Frage von Verteilung von Geflüchteten in der EU und so was verändert hätte, ist nicht der Fall. In dem Bereich stärkt sich die EU nicht wirklich. Vielleicht, vielleicht wird die Erfahrung mit dieser Notstandsverordnung irgendwas bewegen, aber substanziell bewegt sich da wenig. Also geht die EU gestärkt von einigen Bereichen: bestimmt ja, in anderen Bereichen tut sich nichts. Und wie wir den Spagat zwischen gewachsenen geostrategischen Herausforderungen und aus handfesten Sicherheitsbedrohungsszenarien und der Konsolidierung und Festigung und der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Kooperation innerhalb der EU - wie wir diesen Spagat in Zukunft hinkriegen, bleibt die zentrale Herausforderung. Und da kommen noch eine Menge Krisen wahrscheinlich auf uns zu.

Ina Götze: Mit diesen Aussichten sind wir tatsächlich am Ende dieser Folge angekommen. Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit, Professor Heidbreder. Wer noch mehr über die Lage der Europäischen Union erfahren möchte, darf sich auf den November freuen, denn da erscheint die Neuausgabe unseres Forschungsmagazins Guericke und in dem geben Sie ein sehr ausführliches Interview genau zu diesem Thema. Zu finden ist das Magazin auch online auf unserer Website - wir verlinken die Seite schon mal in den Shownotes zum Abspeichern und freuen uns, wenn Sie auch beim nächsten Mal wieder zuhören. Vielen Dank!

Prof. Eva Heidbreder:Danke auch.

Introstimme: Wissen, wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.

Letzte Änderung: 30.11.2022 - Ansprechpartner: Ina Götze