"Die Herstellung von Chancengleichheit wird zum Dreh- und Angelpunkt von Erfolg"

Noch keine 100 Tage ist Dr. Sandra Tiefel Gleichstellungsbeauftragte an der OVGU. Ihre Aufgabe ist alles andere als trivial: mit den Fakultäten, der Verwaltung und den zentralen Einrichtungen sowie dem Studierendenrat gemeinsam die Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit an der Universität fördern und umsetzen. Pressesprecherin Katharina Vorwerk sprach mit ihr über Vorhaben, Wünsche und Ziele.

Interview mit der Gleichstellungsbeauftragten der Universität Magdeburg

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Frau Dr. Tiefel, gleich zu Beginn eine Verständnisfrage: Was unterscheidet Gleichstellung von Gleichbehandlung und warum ist beides so wichtig für eine universitäre Gemeinschaft?

Ich würde Gleichstellung als Herstellung von Chancengerechtigkeit beschreiben und nicht die Gleichbehandlung in allen Dingen. Im Falle der Vergütung ist gleiches Gehalt für gleiche Arbeit unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Religion etc. unabdingbar. Aber bei Stellenbesetzungen sollten Frauen bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt werden, solange sie auf der Beschäftigungsebene statistisch unterrepräsentiert sind. Eine Gleichbehandlung ist faktisch erst dann möglich, wenn von gleichen Grundvoraussetzungen und gleichen Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen, Technik, Internet, Bildung etc. ausgegangen werden kann. Für unsere Universität bedeutet das, Diskriminierungen, insbesondere bei Bildungs- und Erwerbschancen, in den Blick zu nehmen und aktiv gegenzusteuern.

Wo sehen Sie in diesem komplexen Handlungsfeld die OVGU, wo sind wir schon gut unterwegs, wo gibt es noch Handlungsbedarf?

Die Einbeziehung der Gleichstellungsbeauftragten in der Gremienarbeit und bei Stellenbesetzungen bzw. Berufungsverfahren läuft an der OVGU schon gut. Maßnahmen zur Unterstützung wissenschaftlicher Karrieren von Frauen, insbesondere im MINT-Bereich, sind angelaufen und werden gut nachgefragt. Auch haben wir inzwischen einen Leitfaden für gendersensible Sprache, der geschlechtersensible Berufungsleitfaden ist auf dem Weg. Verbesserungspotenziale gibt es indes bei der Erhebung genderbezogener Daten und deren Interpretation. Bei der Öffentlichkeitsarbeit muss über modernere Formate wie Social Media oder Apps nachgedacht werden. Sie sehen: Gleichstellung an der OVGU ist eine komplexe Querschnittsaufgabe, die der gesamten Universität dient und nicht nur dafür sorgt, ein paar wenige Frauen in Führungspositionen zu bringen.

Gleichstellung als Thema ist sicher noch nicht in allen Köpfen verankert. Vor welchen Herausforderungen steht die Gleichstellungsbeauftragte mit ihren Vorstellungen und Ideen?

Mein Anliegen ist es, dass Gleichstellungsbeauftragte als Partnerinnen und Partner bei der Verbesserung von Forschung, Lehre und Administration wahrgenommen werden. Allein der demografische Wandel und die Digitalisierung machen es sehr deutlich: Ohne die Integration von bisher exkludierten Gruppen wie Frauen, Immigranten, Menschen mit Beeinträchtigungen in allen Bereichen der Universität werden wir im nationalen und internationalen Wettbewerb um Studierende und erfolgreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht mithalten können. Der Fortbestand der OVGU hängt davon ab, wie attraktiv die Studien- und Arbeitsplätze hier sein werden. Mit dem Stichwort „Arbeiten 4.0“ ist die OVGU gefordert, unter einem Leitbild „Gute Arbeit“ vorausschauend die sozialen Bedingungen und Spielregeln der künftigen Arbeitsgesellschaft zu thematisieren und mitzugestalten. Kurz: Die Herstellung von Chancengerechtigkeit wird zum Dreh- und Angelpunkt von Erfolg.

Denken schlägt sich in der Sprache wieder. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht die sogenannte gendergerechte Kommunikation?

Ich weiß, dass es im Alltag oft merkwürdig klingt, immer beide Geschlechter sprachlich zu berücksichtigen und es auch die Schriftsprache öfter mal verkompliziert. Ich bin da nicht diktatorisch und kann mich auch gut ohne Binnen-I unterhalten. Aber bei öffentlichen Auftritten und Veröffentlichungen, insbesondere bei Stellenausschreibungen, bin ich ausnahmslos für die sprachliche Differenzierung, da ich der festen Überzeugung bin – um hier ein Pestalozzi-Zitat umzuwandeln –, dass nur in den Köpfen ist, was zuvor in der Sprache war. Mit unserem Flyer zur gendergerechten Sprache versuchen wir, die Hürden der Schriftsprache zu erleichtern.

Wird es so etwas wie einen Masterplan geben, ein Gleichstellungskonzept für die OVGU mit ihren spezifischen Bedürfnissen?

Ein zentrales Gleichstellungskonzept ist aufgrund der Zielvereinbarungen, der Positionierung im Hochschulentwicklungsplan und nicht zuletzt für die angestrebte Exzellenz-Bewerbung der OVGU unerlässlich. Da ist das Büro für Gleichstellung in Zusammenarbeit mit Unileitung und dezentralen Gleichstellungsbeauftragten gefordert, ein aktuelles zentrales Gleichstellungskonzept mit Indikatoren zur Bewertung durchgeführter und fehlender Gleichstellungsmaßnahmen zu entwickeln.

Gibt es aus Ihrer Sicht im Diskurs und der Durchsetzung von Gleichstellung auch Fehlentwicklungen, die nicht zielführend sind?

Tatsächlich gibt es etwas, was mir seit Beginn meiner Tätigkeit bereits häufiger begegnet ist, wofür ich aber noch keine Lösung gefunden habe: Die Umsetzung von Gleichstellungsstandards soll im universitären Kontext durch Präsenz von Frauen in Entscheidungsgremien realisiert bzw. legitimiert werden. Da wir aber (noch) nicht genug Frauen zum Beispiel auf der Ebene der Professuren haben, häuft sich deren Gremienteilnahme überproportional. Zitat einer Professorin: „Meine Kollegen forschen – ich sitze in Berufungsverhandlungen.“ Weibliche Professoren sind damit einerseits zeitlich mehr in Selbstverwaltung gebunden und werden andererseits prioritär nicht in ihrer Fachlichkeit, sondern als „Quotenfrau“ wahrgenommen. Hier schadet meines Erachtens die Vermutung, dass allein Frauen Benachteiligung erkennen und benennen können. Wir müssen auch Männern zukünftig stärker zutrauen, als Gleichstellungsbeauftragte Geschlechtergerechtigkeit zu vertreten und Gleichstellungsmaßnahmen umzusetzen.

Während die Gesellschaft versucht, Stereotype zu vermeiden, setzt die gesamte Industrie auf geschlechtertypische Produkte. Ein Umdenken ist, wenn es um Millionengewinne geht, nicht zu erwarten. Mit welchen Auswirkungen?

Ich denke, dass die Industrie da keinen Gegentrend zu gesellschaftlichen Entwicklungen setzt, sondern vorhandene Bedürfnisse potenziert. Wir merken in allen Bereichen der Gesellschaft einen „Backlash“ hin zu „Schwarz-Weiß“-Mustern und einfachen Erklärungen für komplexe Probleme. Die Diversität moderner Gesellschaften verunsichert und führt zu Orientierungsverlust. Die Betonung von Geschlechtsunterschieden erfüllt Orientierungswünsche und knüpft an Alltagserfahrungen an. Wir dürfen dieses Bedürfnis nach Klarheit nicht belächeln, sondern müssen die dahinterliegenden Ängste ernst nehmen. Die Unterschiedlichkeit zwischen Gruppen ist auch nicht das Problem – die Problematik liegt in der unterschiedlichen Bewertung der Differenz. Wenn rosa weniger einflussreich, weniger mächtig, weniger wohlhabend etc. ist als blau, dann ist das das Problem.

Wann ist der Tag erreicht, an dem die Gleichstellungsbeauftragte der Uni ihr Büro ruhigen Gewissens räumen kann?

Noch an dem Tag, an dem eine schwarze lesbische Rollstuhlfahrerin zur Rektorin gewählt wird, ohne dass dies eine besondere Meldung in der Presse Wert wäre.

 

Frau Dr. Tiefel, herzlichen Dank für das Gespräch!

Letzte Änderung: 22.02.2024 - Ansprechpartner: Webmaster