Eine Uni für alle

29.12.2017 -  

Spannend muss es sein. Und auch spannend klingen. „Kriminologen, Sanitäter oder Brandschutztechniker hätten es da leicht“, sagt Volker Kaibel. Doch ein Mathematiker? Mit Zahlen, Formeln und Gleichungen ist es schwierig, Kinder zu faszinieren. Oder doch nicht? Der Professor vom Institut für Mathematische Optimierung stellte sich der Aufgabe, eine Vorlesung für die Kinder-Uni Magdeburg zu halten und ein wissenschaftliches Thema so aufzubereiten, dass es leicht verständlich und gleichzeitig fesselnd und unterhaltsam ist. Er entwarf eine Vorlesung, die sich mit der Unendlichkeit befasste. 350 Kinder hörten ihm gebannt zu – am Ende verstanden sie: Mathematik heißt nicht nur, zu rechnen oder Formeln umzustellen. Es geht vor allem darum, interessante Gedankenexperimente zu machen.

Kinder-Uni

In 15 Jahren besuchten über 18.000 Kinder die Kinder-Uni Magdeburg. (Foto: Stefan Berger)

Wie wachsen Knochen? Wer stellt eigentlich das Geld her? Und wie funktioniert eine Klarinette? Seit 14 Jahren empfängt die Kinder-Uni Magdeburg in ihren Hörsälen Kinder zwischen acht und zwölf Jahren. Die Themenpalette ist vielfältig. Ob Zootiere im Hörsaal, Orchestermusiker im Konzertsaal oder Geschichte hautnah im Magdeburger Dom – über 90 Vorlesungen fanden bisher statt und lockten rund 18.000 Besucher an. „Der Bedarf ist vorhanden“, freut sich Dr. Rosemarie Behnert, die von Beginn an die Fäden der Veranstaltung in der Hand hält. „Am Anfang haben wir mit 50 Kindern gerechnet“, erinnert sie sich. Doch bereits zur ersten Vorlesung musste sie innerhalb von Stunden in den größten Hörsaal der Universität ausweichen – es kamen 600 Kinder.

Die gesellschaftliche Relevanz der Universität

Inzwischen sind einige von ihnen selbst Studierende an der Universität. Bis heute ist das Interesse an der Veranstaltung ungebrochen. Eine gänzlich andere Zielgruppe hat das Seniorenstudium, das ähnlich erfolgreich ist und in dem Gasthörer ab 50 ausgewählte Lehrveranstaltungen besuchen können. Beide Beispiele zeigen, dass zu den Aufgaben einer Hochschule längst nicht mehr nur Lehre und Forschung zählen. Jenseits der klassischen Anforderungen übernehmen Universitäten und Fachhochschulen immer mehr gesellschaftlich relevante Verpflichtungen. „Third Mission“ ist das Schlagwort. Die dritte akademische Mission wirkt über die Grenzen der Hochschulen hinaus, sie trägt die Wissenschaft in die Städte und Gemeinden, in Schulen, Kindergärten und zu Senioren.

Third Mission ist ein Querschnittsthema“, erklärt Referentin Christin Thiel. „Neben Forschung, Studium und Lehre nehmen Hochschulen gesellschaftlich relevante Funktionen wahr und verknüpfen dabei wissenschaftliche Erkenntnisse sinnvoll mit Erfahrungen aus der Praxis.“ So vielfältig wie die einzelnen Akteure sind dabei auch die Wege, die beschritten werden.

„Es beginnt mit einem Projekt, etwa im Rahmen eines Praktikums, das eine Studierende oder ein Studierender in einer Firma oder Organisation macht“, sagt Thiel. Die Erfahrungen, die dieser in der Praxis macht, nehme er mit zurück an die Universität, inklusive neuer Fragestellungen und innovativer Ideen zur Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen, die zu neuen Forschungsansätzen führen können. Die Ergebnisse fänden dann wiederum ihren Weg zurück in die Unternehmen und die Gesellschaft. Für beide Seiten ein Gewinn.

Konkreter wird es, wenn Stadt und Universität gemeinsame Wege gehen, die auch im Stadtbild sichtbar werden. Etwa mit dem Wissenschaftshafen. An der Stelle des ehemaligen Handelshafens entsteht ein Forschungs-, Wissenschafts- und Museumsstandort, in enger Verbindung zu Wohn-, Gewerbe- und Freizeitgebieten. Das Areal ist zudem Start- und Endpunkt der jährlichen Langen Nacht der Wissenschaften.

Neue Wege sucht auch der Verein KanTe e. V., der 2003 auf Initiative von Studierenden entstand. Seitdem schaffen die rund 100 Mitglieder „Kultur auf neuem Terrain“, beleben Brachen in der Stadt, rufen Urban-Gardening-Projekte ins Leben und entwickeln Räume für Begegnungen und Kommunikation. "Third Mission" schafft so auch Grundlagen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. „Die Höhe der eingeworbenen Forschungsgelder allein zeichnet kein adäquates Bild darüber, wie relevant die Universität für die Region und Gesellschaft ist“, betont Thiel.

Studieren ab 50

Vorlesung des generationenübergreifenden Angebotes "Studieren ab 50". (Foto: Harald Krieg)

Eine Uni für Jung und Alt, in der Stadt und auf dem Land

Stattdessen zeigt sich dies an vielen anderen Stellen – in der Stadt und auf dem Land. Die Kinder-Uni soll es etwa demnächst auch außerhalb der Stadtgrenzen geben. Bisher finden die Vorlesungen in Magdeburg ausschließlich am Wochenende statt. Die meisten Kinder kommen gemeinsam mit ihren Eltern. „Wir erreichen damit natürlich vor allem bereits interessierte Familien, in denen Bildung einen hohen Stellenwert hat“, sagt Rosemarie Behnert. Um auch jene Kinder zu erreichen, die keinen unmittelbaren Zugang zu diesem Angebot haben, macht sich die Kinder-Uni nun selbst auf den Weg zu ihnen: Sie wird mobil. Ab 2018 besucht die Kinder-Uni Schulen in der Peripherie und stellt direkt vor Ort und während der Schulzeit Wissenschaft zum Anfassen und Erleben vor. „Die Anfragen liegen vor, wir müssen es einfach ausprobieren“, sagt Behnert.

So, wie die erste Vorlesung für Flüchtlingskinder vor einem Jahr, in der sich alles ums Thema Weihnachten drehte. Ein Übersetzer half, die sprachlichen Barrieren zu überwinden. Am Schluss gab es für jedes Kind ein kleines Weihnachtspäckchen, das Magdeburger Kinder zuvor gepackt hatten. „Third Mission heißt auch, zu zeigen, wie man anderen in Not hilft“, betont Behnert. Inzwischen sind auch einige dieser Kinder zu regelmäßigen Besuchern der Kinder-Uni geworden, erzählt sie. Einmal im Jahr arbeitet die Kinder-Uni zudem für karitative Zwecke – sammelte etwa bereits Spielzeug für Kinder in Fukushima.

Die Kinder-Uni ist eine logistische Herausforderung, weiß die Koordinatorin. Ein gut eingespieltes Team aus ehrenamtlichen Helfern nimmt Anmeldungen entgegen, stellt Ausweise aus, organisiert den Kuchenbasar und lotst die Kinder in die Hörsäle. Auch die Vortragenden scheuen den Aufwand nicht. Eine Woche hat etwa Volker Kaibel an seiner Vorlesung für Kinder gearbeitet, hat die Wissenschaft in eine Geschichte mit Raumschiff und fernen Planeten gepackt, Animationen und Bilder entworfen und Perlenketten in seinen Vortrag eingebaut. Das Ergebnis: Die Kinder lernten die Mathematik aus einer völlig neuen Perspektive jenseits der Schulwelt kennen – und wurden neugierig. Kaibel wurde mit 45 Minuten purer Aufmerksamkeit belohnt. „So müsste Mathematikunterricht in der Schule sein“, sagten die Zuhörer anschließend. Volker Kaibel schmunzelt. „Das ist natürlich ein unfairer Vergleich, in einer Schulstunde kann man sich den Stoff nicht so einfach aussuchen.“ Und auch nicht jedes Thema aus der Wissenschaft sei in diesem Rahmen vermittelbar.

Es ist wichtig, als Universität auch schon an Kinder, die ja noch nicht im studierfähigen Alter sind, heranzutreten, ist Professor Volker Kaibel sicher. Ein weiterer entscheidender Aspekt: Über die Kinder erreicht man die Multiplikatoren. Denn während der Vorlesung sitzen die Eltern im Nebenraum – und können das Geschehen live auf einer Videoleinwand beobachten. Für die Universität sei dies ein enormer Imagegewinn, ist Kaibel überzeugt. Und nicht nur das. „Manchmal denke ich an Momente in meiner Kindheit zurück, in denen wichtige Weichen gestellt wurden. Ich denke, die Kinder-Uni kann für viele Kinder so ein Moment sein.“

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