Müssen Unternehmen Gewinne machen?

16.08.2019 -  

Eine bessere Welt, statt großer schwarzer Zahlen! Nicht mehr, aber auch nicht weniger wollen sogenannte Social Entrepreneurs. Diese Gründerinnen und Gründer stellen deshalb eine soziale Mission in den Fokus ihres Unternehmens, anstatt eine weitere hippe Klamotte oder die nächste lustige Spiele-App erfolgreich auf den Markt zu bringen. Ihre Alternative heißt: durch unternehmerische Tätigkeit gesellschaftliche Herausforderungen und Probleme anpacken und lösen. Müssen sie aber auch Gewinne machen?

An der Bürowand von Dr. Nicole Siebold am Lehrstuhl für Entrepreneurship der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg hängt eine bunte grafische Übersicht der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen: keine Armut, kein Hunger, hochwertige Bildung, sauberes Wasser und Gleichstellung aller Menschen gehören dazu. Die Wirtschaftswissenschaftlerin will erreichen, dass diese Vorhaben in Zukunft auch stärker über unternehmerische Ansätze verfolgt werden können. Deshalb erforscht sie Sozialunternehmen, deren Geschäftsmodelle und Wachstumsstrategien.

Nicole Siebold 1 (c) Harald KriegDr. Nicole Siebold. (Foto: Harald Krieg)

Das traditionelle, gewinnorientierte Geschäftsmodell funktioniert so: Es gibt ein Produkt, zum Beispiel eine Tomatensuppe. Menschen kaufen sie im Supermarkt ein, das Unternehmen hat ein Einkommen, sorgt für einen Gewinn. Davon kauft es neue Zutaten, bezahlt Angestellte und produziert wieder neue Tomatensuppen. Um diese Tomatensuppen kaufen zu können, gehen Menschen arbeiten. So funktioniert der Kreislauf des Markts.

Es gibt jedoch Menschen, die von diesem Kreislauf ausgeschlossen sind, die für den Markt und die Unternehmen als Zielgruppe nicht interessant erscheinen. Sei es, weil sie als Konsumenten zu wenig Geld zur Verfügung haben, weil sie nicht Teil des ersten Arbeitsmarkts sind, keinen Zugang zu Bildung haben, nicht uneingeschränkt an der Gesellschaft teilhaben können oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen sind.

Immer mehr Gründerinnen und Gründer auch in Deutschland wollen umdenken, den Markt erweitern und so nutzen, dass diese Menschen im Fokus stehen, Hunger, Armut und Diskriminierung weniger werden. Die Herausforderung dabei: Ein Unternehmen am Laufen zu halten, obwohl es Tomatensuppen um im Bild zu bleiben kostenlos verteilt! Wie das funktionieren kann, darüber denkt Dr. Nicole Siebold nach. Sie zählt Beispiele funktionierender Sozialunternehmen auf: Die App ‚ShareTheMeal‘ zum Beispiel. Die ist direkt an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gekoppelt und erlaubt es dem Nutzer, ein Essen zu teilen, indem kleine Geldbeträge an konkrete Projekte gespendet werden und der Nutzer nachverfolgen kann, wie das Geld letztendlich verwendet wurde. Sie motiviert Menschen, zu spenden. Das Berliner Unternehmen ‚WheelMap.org‘ des Vereins Sozialhelden e.V. ist ebenfalls eine digitale Anwendung. Auf einer interaktiven Straßenkarte können Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer dokumentieren, welche Restaurants, Museen oder Hörsäle für sie zugänglich sind und welche nicht. Die gesammelten Informationen helfen Einzelnen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und dieses besser zu organisieren: Kann ich da hingehen? Muss ich mehr Zeit einplanen? Das Unternehmen ‚Was hab‘ ich?‘ bringt wiederum Patienten, die Schwierigkeiten haben, komplizierte Arztbefunde zu verstehen, mit Medizinstudierenden zusammen, um die Befunde auf Augenhöhe zu besprechen. Die Studierenden sammeln Praxiserfahrung und werden für eine verständliche Kommunikation sensibilisiert, die Patienten verstehen ihre ärztliche Diagnose besser. Die Geschäftsmodelle der Sozialunternehmerinnen und -unternehmer sind zahlreich und kreativ. Es heißt nicht umsonst „Not macht erfinderisch“. Trotzdem lässt sich diese Vielfalt an Ideen und Konzepten in vier grundlegende Geschäftsmodelle unterteilen, sagt Nicole Siebold.

Nicole Siebold über ihre Arbeit als Wissenschaftlerin

„Beim ‚Spiel des Lebens‘ war ich immer Ärztin oder Rechtsanwältin. Wissenschaftlerin die Berufskarte hat mich gar nicht so interessiert. Ich bin über das Thema Social Entrepreneurship in die Wissenschaft gekommen. Jetzt ist es für mich der schönste Beruf, eine Berufung sozusagen. In der Arbeit mit Social Entrepreneurs mit jungen Menschen, die die sozialen und ökologischen Probleme der Welt strategisch angehen habe ich gemerkt: Wenn man etwas findet, für das man brennt, das einen fasziniert, und dieses kombiniert mit etwas, das man gut kann das ist eine sehr große Kraft, die man mitbringt, die einen antreibt. Mit der Forschung kann ich meinen Beitrag zum Sozialunternehmertum erbringen. Und ich glaube, dass Social Entrepreneurship sehr viel zum gesellschaftlichen Wandel beiträgt, den wir vollziehen müssen, einfach, weil wir mit den Ressourcen der Welt weit über unsere Verhältnisse leben und mehr Verantwortung für unser Handeln übernehmen müssen.“

Gewinnorientiert oder Sozial, oder vielleicht auch beides?

Wer eine Idee für ein Sozialunternehmen hat, muss sich, so Siebold, zunächst zwei Fragen beantworten. Erstens: Will ich mit meinem Unternehmen etwas für eine soziale Zielgruppe tun und sie quasi als reinen Empfänger bedienen, oder will ich mit der Zielgruppe arbeiten, um sie produktiv in mein Unternehmen zu integrieren? So wie bei ‚WheelMap.org‘ sind es nicht Angestellte, sondern die soziale Zielgruppe selbst, die das Unternehmensangebot gestaltet. Es sind die Rollstuhlfahrer, die sich mit der App gegenseitig und selbst helfen. Die zweite Frage lautet: Wie will mein Unternehmen Geld verdienen? Beim Sozialunternehmen ist das nämlich gar nicht selbstverständlich. Einige Unternehmen verdienen kein eigenes Geld, können sich aber trotzdem am Markt halten. Wer diese beiden Fragen mit ihren jeweils zwei Möglichkeiten beantwortet, landet bei einer von vier Kombinationsmöglichkeiten und somit bei einem von vier Geschäftsmodellen:

  • Das Unterstützungsmodell für die soziale Zielgruppe und durch Spenden finanziert
  • Das Befähigungsmodell mit der sozialen Zielgruppe und durch Spenden finanziert
  • Das Nutzungsmodell mit der sozialen Zielgruppe und mit selbstverdientem Geld finanziert
  • Das Promotionsmodell für die soziale Zielgruppe und mit selbstverdientem Geld finanziert

So unterscheidet Siebold also zwischen diesen vier Modellen. Am Beispiel einer Suppenküche durchdekliniert, heißt das: Wenn ich Freiwillige habe, die mittags dank Geldspenden für Obdachlose kochen, habe ich ein Unternehmen, das für jemanden Essen anbietet und mithilfe von Spenden finanziert wird. Das ist Modell Nummer eins: Unterstützung der sozialen Zielgruppe. „Wenn das mit den Geld- und Zeitspenden nicht funktioniert, weil alle im Sommer im Urlaub sind, dann versuchen wir das Befähigungsmodell“, erklärt Siebold den Übergang zu Modell Nummer zwei, „Wir befähigen die Obdachlosen für sich selbst zu kochen“. Befähigung, oder auch Empowerment, bedeutet, dass die Zielgruppe nicht nur bedient wird. Sie wird ermächtigt, sich selbstständig zu versorgen. „Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben“, sagte Konfuzius. Und vielleicht ernährt der Mann sogar noch andere und dann wäre das Modell Nummer drei: Nutzung der sozialen Zielgruppe. Obdachlose, werden als Arbeitskräfte in der Küche eingesetzt und kochen nicht nur für sich, sondern auch für andere als Schnellimbiss für Laufkundschaft oder als Kantine für umliegende Unternehmen. Für Modell Nummer vier die Promotion, also Förderung ist es sehr wichtig, Geld zu verdienen. Promotion-Unternehmen arbeiten ähnlich wie konventionelle Geschäfte. Sie produzieren und verkaufen Produkte oder Dienstleistungen ähnlich wie gewinnorientierte Unternehmen. Aber sie machen Geld, um es wieder abzugeben: Entweder geben sie für jedes verkaufte Produkt zum Beispiel Pizza eine zweite Pizza an Obdachlose oder sie spenden ihre Einkünfte an eine Suppenküche, die dann Essen an Obdachlose verteilen kann.

Die Antwort auf die Frage, ob Sozialunternehmen Gewinne machen, lautet also: Sie können, aber sie müssen nicht. Alles ist möglich, solange es ethisch und moralisch vertretbar ist. Es gibt viele kreative Möglichkeiten für Geschäftsmodelle und somit auch für Rechtsformen. Oft sind Sozialunternehmen in Vereinen organisiert, weil Vereine unkompliziert Spenden annehmen können. Sozialunternehmen, die Gewinne machen, können eine ganz normale GmbH sein, oder zum Beispiel eine gGmbH - eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Das Unternehmen ‚Discovering Hands‘, zum Beispiel, ist eine gUG eine gemeinnützige Unternehmensgesellschaft. „Das Unternehmen bildet blinde Frauen aus, Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen durchzuführen“, erklärt Dr. Nicole Siebold, „Der spezielle Tastsinn blinder Menschen hilft, Brustkrebs in sehr frühen Stadien zu erkennen früher als Frauenärzte es feststellen können und kostengünstiger als eine Röntgenuntersuchung. Die Menschen werden ihren Stärken entsprechend produktiv eingesetzt und sind im ersten Arbeitsmarkt tätig.“

Wann entsteht aus einem Geschäftsmodell ein Sozialunternehmen?

Es gibt heute wohl kein größeres Unternehmen mehr, das sich nicht gesellschaftlich engagiert. ‚Corporate Social Responsibility‘ nennt man es, wenn Firmen sich ihrer sozialen Verantwortung stellen, Teile ihrer Einnahmen spenden, lokale Projekte fördern oder soziale Einrichtungen unterstützen. Doch was unterscheidet dieses Engagement vom Sozialunternehmen? Sie verhalten sich äußerlich ähnlich, aber unterscheiden sich trotzdem, so die Wirtschaftswissenschaftlerin der Uni Magdeburg. Denn: Wer ein erfolgreiches Geschäftsmodell entwickelt, um beispielsweise Geflüchteten zu helfen, Deutsch zu lernen, ist Social Entrepreneur. Die Mission steht im Kern und ist das oberste Ziel. Konventionelle Unternehmen haben bereits ein tragfähiges Geschäftsmodell das auch funktioniert, wenn sie Geflüchteten nicht helfen. Wenn sie es dennoch tun, ist das nicht weniger hilfreich. Aber es macht sie nicht zum Sozialunternehmen.

Nicole Siebold 2 (c) Harald KriegDr. Nicole Siebold. (Foto: Harald Krieg)

Für Nicole Siebold ist dieser Unterschied auch deshalb wichtig, weil sie erforscht, durch welche weiteren, speziellen Eigenschaften sich Sozialunternehmen von anderen Geschäftsmodellen unterscheiden. Was funktioniert besonders gut? Wie können Sozialunternehmen wachsen? Kann man ihren Erfolg überhaupt messen und wenn ja, wie? Anders als bei kommerziellen Unternehmen, die stetig wachsen, expandieren und immer höhere Gewinne machen, kann es bei Sozialunternehmen sein, dass sie sich auflösen, wenn sie den Zenit ihrer Zielsetzung erreicht haben. Das liegt am sozialen Kern. „Social Entrepreneurs wollen es schaffen, dass die soziale Zielgruppe am Ende nicht mehr bedürftig ist“, sagt Dr. Siebold, „Würden Sie der Suppenküche vorwerfen: Ihr habt selbst dafür gesorgt, dass die Menschen keinen Hunger mehr haben und deshalb nicht mehr zu euch kommen?‘“, fragt sie halb im Scherz.

Social Entrepreneurship - nicht neu, aber immer noch notwendig

Siebold ist überzeugt: Social Entrepreneurship ist wichtiger denn je für unsere Gesellschaft, weil es das Potenzial hat, systematisch zu verändern. Würden alle Menschen befähigt, für sich selbst sorgen zu können und darüber hinaus noch andere zu ernähren, bedürften sie keiner Unterstützung mehr.

„Die Antwort auf die Frage, ob Sozialunternehmen Gewinne machen, lautet also: Sie können, aber sie müssen nicht. Alles ist möglich, solange es ethisch und moralisch vertretbar ist. Es gibt viele kreative Möglichkeiten für Geschäftsmodelle und somit auch für Rechtsformen.“

Wer dieses Geschäftsmodell erfolgreich aufbaut und langfristig am Laufen hält, erzeugt langfristig soziale Wirkung. „Neben der staatlichen Grundsicherung sowie Einrichtungen wie der Caritas und Arbeiterwohlfahrt, die in Deutschland ein breites Auffangnetz für Menschen in Not spannen, gibt Social Entrepreneurship zusätzliche Impulse für eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft“, so Siebold. „In anderen Ländern gibt es Social Entrepreneurship schon sehr viel länger, einfach, weil die Notwendigkeit dafür bestand.“ Denn nicht überall auf der Welt gibt es ein staatliches Sozialsystem. In vielen Ländern mangelt es nicht nur an öffentlicher Unterstützung, sondern an lebenswichtigen Dingen wie Grundnahrungsmitteln und sauberem Wasser. In Deutschland hat auch die Politik den Wert des Sozialen Unternehmertums erkannt. Im Koalitionsvertrag der großen Koalition heißt es: „Social Entrepreneurship wollen wir noch stärker als bisher fördern und unterstützen“, für die Magdeburger Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler am Lehrstuhl für Entrepreneurship ein starkes Signal, dass sie mit ihrer Forschung einen wichtigen Beitrag für einen positiven gesellschaftlichen Wandel leisten.

Ihre Forschungserkenntnisse geben sie an Unternehmen, aber auch und vor allem an Studierende weiter: „Wir sind als Lehrstuhl immer darauf bedacht, auch die sozial und ökologisch orientierten Themen an der Universität mit auszubilden, was ich sehr wichtig finde an einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät insbesondere.“

Ein Unternehmen muss keine Gewinne verdienen, davon ist Nicole Siebold überzeugt. Aber: Es muss ökonomisch nachhaltig sein, um seine soziale Aufgabe oder Mission täglich und über einen langen Zeitraum erfüllen zu können. Das ist eine Notwendigkeit. Dabei ist es aber egal, ob Einkünfte selbst erwirtschaftet werden, ob es eine Spendenquelle gibt oder aber Bedürftige ermächtigt werden, sich selbst zu helfen. Dass es künftig ein fester Bestandteil für alle Unternehmen wird, auch auf sozialer und ökologischer Ebene nachhaltig zu handeln, ist Nicole Siebolds Vision: „Unternehmen dürfen nicht in Kauf nehmen, dass die Umwelt verschmutzt wird, nur, um mehr Gewinne zu erwirtschaften.“ Alle Menschen, die am Unternehmen mitarbeiten und teilhaben, müssen gerecht behandelt und versorgt werden. Siebolds Maxime: „Mit allen Dingen, die das Unternehmen tut, sollte es versuchen, die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit sozial, ökologisch und ökonomisch anzusprechen.“

 

von Julia Heundorf

Letzte Änderung: 09.07.2020 - Ansprechpartner: Webmaster