Lösungen für Flüchtlingskrise - Was können Wissenschaft und Politik noch leisten?

Seit Wochen bestimmen die immer gleichen Bilder die Medien. Bilder von Menschen, die sich auf den Weg quer durch Europa gemacht haben, mit dem Nötigsten ausgerüstet, Bilder von vornehmlich jungen Männern, aber auch von Familien, die vor Konflikten in Syrien, in der Ukraine, im Irak, in Israel und vielen anderen Orten der Welt flüchten und in Europa ein neues Leben suchen. Die europäische Politik hat unterschiedliche Antworten auf die Herausforderungen, auch innerhalb Deutschlands werden entgegengesetzte Positionen deutlich. Positionen, die die Politikwissenschaftlerin Prof. Anna Geis von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg von Berufs wegen beschäftigen. Die Leiterin des Instituts für Politikwissenschaft hat den Lehrstuhl für Internationale Beziehungen inne. Katharina Vorwerk hat sie aus aktuellem Anlass unter anderem gefragt, was vor dem Hintergrund kräftig mitschwingender National- und Partikularinteressen Politik und Wissenschaft in einer globalisierten Welt überhaupt noch leisten können.

 

Katharina Vorwerk: Frau Prof. Geis, Sie leiten den Master-Studiengang Friedens- und Konfliktforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Gibt es denn Muster für Konflikte, wie wir sie zurzeit erleben, können wir gewaltsame Auseinandersetzungen wissenschaftlich überhaupt erforschen?
Prof. Anna Geis: Konflikte sind ein natürliches Phänomen in menschlichen Beziehungen auf allen Ebenen und als solche noch nichts Negatives – entscheidend ist, wie man Konflikte wahrnimmt und bearbeitet. Die umfassende Analyse von Konfliktursachen und Konfliktdynamiken einerseits und die Entwicklung, aber auch kritische Beurteilung von konstruktiven Konfliktbearbeitungsmethoden andererseits sind wichtige Aufgaben der Friedens- und Konfliktforschung. Die Politikwissenschaft kann das natürlich nicht alleine leisten, sondern bezieht weitere sozial- und geisteswissenschaftliche Fachdisziplinen und auch Naturwissenschaften ein, etwa bei Themen der Rüstungskontrolle oder des Klimawandels. Wir erforschen, wie eine dauerhafte Befriedung von gewaltsamen Konflikten gelingen kann, welche Rolle etwa Menschenrechte und Demokratie darin spielen und wie Konfliktprävention aussehen könnte – leider richtet sich die politische Aufmerksamkeit wesentlich stärker auf Konflikte, die bereits gewaltsam eskaliert sind. Die derzeitige Flüchtlingsthematik in Europa macht das sehr deutlich.

Katharina Vorwerk: Haben denn die Konfliktherde in den letzten Jahren zugenommen oder ist das eine der medialen Aufmerksamkeit geschuldete subjektive Wahrnehmung?
Prof. Anna Geis: In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Datenbanken zu gewaltsamen Konflikten und Kriegen über Jahrzehnte hinweg, die aber je nach Definition zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das 20. Jahrhundert mit den zwei Weltkriegen, mit Holocaust und Kaltem Krieg gilt als ein besonders gewaltträchtiges Jahrhundert. Aber es gab und gibt immer gewaltsame Konflikte auf der Welt, allerdings mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen auf die betroffene Gesellschaft, auf die Region oder gar auf das globale Machtgefüge. Daher ist es eigentlich wichtiger, zu fragen, um welche Art von Konflikten es sich handelt und wie diese Konflikte wahrgenommen werden.

Auch die Konfliktformen haben sich stark gewandelt, es dominieren langanhaltende, innerstaatliche Konflikte. Bedrohungen durch nicht-staatliche Akteure, wie Milizen, Rebellen oder grenzüberschreitende Terrornetzwerke und organisierte Banden sind gestiegen, während die Anzahl zwischenstaatlicher Kriege seit Ende des Zweiten Weltkriegs stark zurückgegangen ist.

Durch Globalisierungsprozesse und Veränderungen im Völkerrecht ist zugleich das Bewusstsein gestiegen, dass Konflikte in bestimmten Teilen der Welt auch die anderen Staaten angehen. Durch das Internet erreichen uns in Sekundenschnelle Bilder und Informationen, können Menschen mobilisiert werden. Kein Staat ist mehr isoliert von Globalisierungsprozessen oder kann sich als Trutzburg dauerhaft abschotten.

Katharina Vorwerk: Wir erleben gerade Flüchtlingsbewegungen aus den Krisen- und Kriegsgebieten der Erde, dabei sind die Probleme in Syrien oder Afrika seit Jahren unvermindert vorhanden. Warum machen sich gerade jetzt hunderttausende Menschen auf den Weg in eine unbestimmte Zukunft?
Prof. Anna Geis: Die momentane Kriegssituation in Syrien ist verantwortlich für eine der größten Flüchtlingskrisen der jüngeren Zeit. Der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees - Anm. d. Red.) hat allein in den arabischen Nachbarstaaten, der Türkei und Nordafrika über vier Millionen syrische Flüchtlinge registriert. Auch das sollte man sich klar machen, wenn man in Europa über Flüchtlingswellen spricht: zunächst betroffen sind immer die unmittelbaren Nachbarländer. Und diese verfügen nicht annähernd über dieselben finanziellen Möglichkeiten wie die EU-Mitgliedsstaaten.

Die Geschichten der Flüchtlinge sind sehr unterschiedlich. Einige fliehen auf Grund von unmittelbaren Kampfhandlungen in ihrer Heimatgegend. Andere treten die Flucht an, weil sie ins Militär eingezogen werden sollen oder um dem Einflussgebiet des IS zu entkommen. Die meisten haben bereits Angehörige und Freunde verloren – oft ist nicht einmal genau klar, wer der unterschiedlichen Kriegsparteien für den Tod verantwortlich ist. Auch die Flüchtlinge aus Afrika kommen entgegen der vielfach verbreiteten Meinung mehrheitlich nicht, um es sich in den europäischen Sozialsystemen bequem zu machen oder als sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“. Über 50 Prozent aller in der EU gestellten Asylanträge wurden im ersten Quartal 2015 positiv beschieden, sind also nicht wirtschaftliche motivierte Migration. Bei Flüchtlingen aus afrikanischen Kriegs- und Krisengebieten wie Eritrea, Somalia und dem Sudan liegt die Quote noch höher. Die Zahlen machen deutlich, dass sie durch rechtliche Statute anerkannte Gründe für Flucht haben und damit ein Recht darauf haben, geschützt zu werden.

Katharina Vorwerk: Die Zivilgesellschaft reagierte in den letzten Wochen relativ schnell, unbürokratisch und selbstlos, um den Flüchtlingen zu helfen. ‚Wir schaffen das‘, sagte die Bundeskanzlerin und verbreitet Zuversicht. Aber die europäische Politik scheint im Gegensatz zur Griechenlandkrise uneins, zerstritten und planlos. War sie nicht vorbereitet?
Prof. Anna Geis: In solchen Krisen zeigt sich, dass die Mitglieder der Europäischen Union beileibe nicht so einig handeln, denken und wahrnehmen, wie das der Begriff „Union“ nahelegt. Hinzu kommt, dass Kreditvergaben oder quasi „anonyme“ politische Mechanismen etwas ganz anderes sind als Hundertausende Menschen, die in kürzester Zeit in ein Land der EU kommen und dort nicht nur menschenwürdig behandelt werden, sondern im Weiteren auch in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert werden müssen. Diese Herausforderung ist viel spürbarer im Alltag der breiten Bevölkerung und mit vielen Ängsten verbunden. Das ist mit Dauerverhandlungen über neue „Hilfspakete“ für verschuldete Staaten nicht zu vergleichen – die Anstrengung muss demnach nicht vorrangig von der politischen Spitze, sondern vor allem von den Menschen in Schulen, in den Städten und Dörfern geschultert werden. Da viele Politiker den Widerstand und massive Belastungen ihrer Bevölkerung befürchten, gibt es hier wenig Solidarität zwischen den europäischen Mitgliedstaaten, die zudem sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Generell scheinen wir aber feststellen zu müssen, dass es mit Solidarität und fairer Lastenverteilung nicht weit her ist in der Europäischen Union.

Politisch Verantwortliche handeln oft erst, wenn der Problemdruck zum Handeln zwingt – eben, wenn insgesamt schon von einer „Krise“ die Rede ist. Vorausschauend zu handeln, wäre geboten, wird von der Politik aber meistens versäumt.

Katharina Vorwerk: Neben der Ursachenforschung aktueller bewaffneter Konflikte beschäftigen Sie sich mit allgemeine Fragen zur Sicherheitspolitik in Demokratien, mit Herausforderungen durch den Klimawandel, aber auch mit Fragen zu globaler Gerechtigkeit. Kommen Ihre Forschungsergebnisse und wissenschaftlichen Studien bei den Verantwortlichen an?
Prof. Anna Geis: Es gibt zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in Politikberatungsprozesse eingebunden sind, zum Beispiel über Expertengremien, Gutachtertätigkeiten oder über Fachtagungen. Es bleibt aber immer eine Herausforderung, die komplexen Erkenntnisse der Sozialwissenschaft und unsere oft ambivalenten Einschätzungen so zu kommunizieren, dass sie verstanden werden und auch für politisch Verantwortliche verwertbar sind. Natürlich nutzen ja auch die Beraterstäbe von Politikern wissenschaftliche Studien, um ihre internen Arbeitspapiere zu entwickeln. Dennoch muss man in Rechnung stellen, dass Politik -anders als Wissenschaft - unter permanentem Entscheidungs- und Rechtfertigungsdruck in machtorientierten Handlungskontexten steht. Dies sind manchmal ungünstige Bedingungen, um auf den Rat von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu hören.

Katharina Vorwerk: Was, glauben Sie, kann eine in kurzfristigen Perioden denkende Politik überhaupt noch leisten?
Prof. Anna Geis: Politik kann natürlich auch kurzfristig sehr viel leisten. Es wurde ja oft genug darauf hingewiesen, wie rasch manche Regierung im Angesicht der globalen Finanzkrise vor einigen Jahren oder etwa auch die US-Regierung in Reaktion auf die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 gehandelt hat. Das sind dann schon bestimmte Krisenereignisse mit globalen Auswirkungen, die aber besonders drastisch zeigen, wozu staatliche Politik auch in globalisierten Zeiten in der Lage ist, nach wie vor. Aber auch alltägliches politisches Handeln leistet ja viel – nur eben oft nicht so vorausschauend, wie man sich das wünschen sollte, sondern eher an der Befriedigung von bestimmten Wählerwünschen in stets wiederkehrenden Wahlperioden orientiert. Politik in Demokratien neigt infolge der permanenten Wahlen oft zu kurzfristig orientierter Politik, das ist richtig. Die möglichen Bedürfnisse der nachfolgenden Generationen, wie ja die Debatte zum Klimawandel zeigt, bleiben dann eher unberücksichtigt.

Katharina Vorwerk: An der Universität Magdeburg gibt es seit mehr als zehn Jahren den Studiengang Friedens- und Konfliktforschung, bis vor kurzem gab es den Lehrstuhl für Menschenrechtsbildung. Was kann Wissenschaft, was kann Forschung zur Befriedung der Welt beitragen?
Prof. Anna Geis: Die Wirkungen von Wissenschaft auf Politik und Gesellschaft sind abgesehen von stattfindender Politikberatung oft indirekter, aber dadurch nicht weniger bedeutsam. Erkenntnisse über gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Konfliktprozesse, die Entwicklung von normativen Konzepten zur Krisenprävention oder zur „menschlichen Sicherheit“, die Zeitdiagnosen von uns Wissenschaftlern gehen in öffentliche Debatten ein. Und sie werden über die universitäre Lehre natürlich auch in die Köpfe der Studierenden getragen, die diese dann wiederum über ihre späteren Positionen im Arbeitsmarkt einer Gesellschaft oder in internationalen politischen Institutionen weitertragen.

Sozialwissenschaften in einer Demokratie tragen generell dazu bei, Werte und Normen einer Gesellschaft fortwährend zu reflektieren, zu stabilisieren und auch weiterzuentwickeln. Diese integrative Funktion von Sozial- und Geisteswissenschaften sollte man nicht unterschätzen. Wir haben in der hochschulpolitischen Krise in Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren daher immer argumentiert, dass man Geistes- und Sozialwissenschaften auch aus diesem Grund nicht abschaffen darf. Wir bilden Fachkräfte für Demokratie aus; sie geben Impulse, sind innovativ, sie haben unverzichtbare Kompetenzen, auf die jedes Bundesland angewiesen ist.

Katharina Vorwerk: Wagen Sie eine Prognose für die nächsten Monate Jahre zur politischen Situation in Europa?
Prof. Anna Geis: Keine Prognose, denn wie schon angedeutet, zeigt sich in Krisen oft auch überraschendes Handeln, und die EU könnte aus Krisen auch gestärkt hervorgehen. In der EU haben sich viele Menschen zu lange in einer Art „Wohlstandsinsel“ eingerichtet, die sich von den gewaltsamen Konflikten in der Welt gerne abschotten würde. Es wird leider gerade von Jüngeren als viel zu selbstverständlich gesehen, welche große Leistung das „Friedensprojekt Europa“ darstellt. Nunmehr wird aber deutlich, dass es eine Illusion war zu glauben, die EU könnte sich in ihren Beziehungen zur Außenwelt einfach nur auf Handelsbeziehungen, Förderung von Menschenrechten und Demokratie beschränken und sich als „Festung Europa“ behaupten – hätte aber ansonsten wenig mit den Gewaltkonflikten der Welt zu tun. Auch der Wohlstand und der Frieden innerhalb der EU haben einen hohen Preis, auch Staaten der heutigen Europäischen Union, man denke an die Kolonialzeit und ihre bis heute nachwirkenden Folgen auf die betroffenen Gesellschaften, sind mitverantwortlich für die starke ökonomische Ungleichheit in der Welt, sind mitverantwortlich für die Folgen ihrer regionalen Stabilisierungsversuche und militärischen Interventionen in der heutigen Zeit, etwa in Libyen oder Afghanistan oder in Ex-Jugoslawien. Will sagen: Wir müssen Verantwortung auch für die Flüchtlinge tragen, da auch wir an vielen Krisen der Welt unseren Anteil haben, das heisst an den Fluchtursachen – sei es in historischen oder in gegenwärtigen Konstellationen.

Katharina Vorwerk: Vielen Dank für das Gespräch.

Magdeburg, 4. Oktober 2015
 

 

 

Letzte Änderung: 09.07.2020 - Ansprechpartner: Ines Perl